Verletzt an Leib und Seele
Er war eines der größten Fußballtalente. Aber irgendwann streikte bei Sebastian Deisler nicht nur der Körper. Eine Leidensgeschichte, die wehtut
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Im Januar fallen im Fußball noch keine Entscheidungen. Oft ist es da spannender, was hinter den Kulissen passiert. Seit es die sogenannte Transferperiode 2 gibt, die am 31. Januar endet, ist der Monat für Spielerberater, Manager und Profis interessanter als viele andere. Dann werden Karrieren in neue Bahnen gelenkt, Spieler wechseln in andere Länder und Ligen und immer fließen die Millionen. Im Januar 2007 jedoch kam es anders.
Da wurde eine der hoffnungsvollsten Karrieren des Fußballs beendet, niemand kassierte mit, und statt der Millionen flossen nur ein paar Tränen. Es ist die traurige Geschichte von Sebastian Deisler, der besser für den Fußball geschaffen war als fast jeder, der es je versucht hat, aber nicht für das Fußballgeschäft.
In seiner tiefsten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik leuchtet dem deutschen Fußball ein kleines Hoffnungslicht. Bei Borussia aus Mönchengladbach macht in der Saison 1998/99, in der sie erstmals absteigen muss, ein schmaler junger Mann Furore. Sebastian Deisler aus Lörrach im Schwarzwald, obwohl schon mit 18 Kreuzband und Meniskus anreißen, tänzelt nach der Genesung durch die Abwehrreihen wie einst Ingemar Stenmark durch die Slalomstangen. Sein Tor gegen 1860 München, ein Solo an sechs Gegnern vorbei, macht ihn berühmt.
So einer ist zu schade für die 2. Liga. Hertha BSC holt den 19jährigen in die Hauptstadt, wo ihn der Boulevard zu „Basti Fantasti“ befördert und ihm kein Medium von Rang eine Homestory erspart. Im Dezenber 1999 dann der erste Kreuzbandriss. Operation. Dennoch darf er mit zur EM 2000 – dem fatalsten Turnier in der DFB-Historie, trotz Russland und Katar. Bezeichnend für seinen weiteren Weg, dass es das einzige für ihn bleiben wird.
Dabei planen noch zwei weitere Bundestrainer nach Erich Ribbeck mit Sebastian Deisler. Aber vergebens. In Berlin zieht sich der sensible Deisler Verletzungen an Leib und Seele zu, an denen er lange leidet. Leistung bringt er trotzdem und bald schon ist klar: es geht noch eine Stufe höher für einen wie ihn.
Mitte 2001 wird er sich mit Bayern einig, weil ein Hoeneß den anderen beklaut – der Uli den Dieter. Dumm nur, dass er noch ein Jahr in Berlin spielen muss, aber schon nach drei Monaten alles herauskommt. Eine 20-Millionen-Mark-Handgeld-Zahlung, von Bayern als „Darlehen“ verharmlost, wird publik. Deisler läuft neun Monate Spießruten, nur seine nächste Knie-OP erspart ihm einige Pfiffe.
Aber beim Comeback im März 2002 brüllen die Hertha-Fans: „Deisler ist ein Bayern-Schwein“. Auf einem Transparenz steht: „Deisler hat kein Hertha-Herz, geh doch schon im März“. Der Nationalspieler leidet jahrelang unter diesen Vorfällen und fühlt sich von Hertha schlecht beschützt. Dann kommt die nächste fatale Diagnose: Knorpelschaden im rechten Knie, OP Nummer vier. Die kostet ihn die WM 2002 in Asien – und die erste Saisonhälfte bei seinem neuen Klub, den Bayern. Wäre er besser nie hingegangen; heute weiß er es.
Für Sebastian Deisler wird München Karrierefalle und –ende zugleich. Der vielleicht talentierteste offensive Mittelfeldspieler Deutschlands seit Fritz Walter kann die ihm zugedachte Rolle auf dem Platz nur selten einnehmen. Unglaubliches Verletzungspech verfolgt ihn auch dort.
Die Rolle neben dem Platz will er nicht einnehmen. Er weigert sich partout, ein Medienstar zu werden und scheut die Öffentlichkeit.
Heute weiß man warum. In München bricht seine Krankheit aus, er leidet an Depressionen und muss mehrmals in eine Klinik. Einmal finden ihn Uli Hoeneß und Trainer Ottmar Hitzfeld „völlig verwirrt“ (Hoeneß) in seiner Wohnung vor.
Öffentlich wird alles im Herbst 2003. Ab 19. November lässt Deiser sich wegen Depressionen in einer Münchner Spezialklinik behandeln – für zehn lange Wochen. Deisler dazu später: „Es ging nicht mehr anders. Ich wollte niemanden in der Klinik sehen, noch nicht einmal meine Eltern. Ich war krank. Ich konnte nicht einschlafen, weil ich Angst vor dem Aufwachen hatte. Manchmal hatte ich sogar Angst: Wenn ich einschlafe, wache ich nie wieder auf.“
Der Fall entfacht eine Debatte über Leistungsdruck im Profifußball. Deisler kehrt erst im Mai 2004 auf den Platz zurück und nimmt einen zweiten Anlauf. Die EM 2004 aber muss ohne ihn stattfinden.
Im Oktober spielen sie in Turin. Deisler reist mit der Mannschaft an, aber ohne sie wieder ab. Vorzeitig. Es ist ein Rückfall, sein Arzt spricht von „einer kleinen Verschlechterung“. Auch dass ihn der neue Bundestrainer Jürgen Klinsmann in dessen ersten beiden Länderspielen einsetzt, hellt seine Stimmung nicht nachhaltig auf. Im Verein hat er mit Felix Magath zudem keinen allzu empathischen Menschenkenner als Trainer.
Die Mitspieler verspotten ihn als „Deislerin“ – das Mädchen unter Männern. Harter Profialltag, zu hart für Basti Fantasti. Er quält sich noch zweieinhalb Jahre, noch einmal geht am Knie etwas kaputt (Knorpelabsprengung) – kurz vor der WM 2006, zu der ihn Klinsmann sicher mitgenommen hätte. Von diesem Moment an denkt Deisler ans Aufhören. Er hat genug von OP-Sälen und Reha-Zentren. Er vertraut seinem rechten Knie nicht mehr. Das alles schlägt wieder auf die Psyche.
In viereinhalb Bayern-Jahren kommt er auf 62 von 153 möglichen Bundesliga-Einsätzen – und nie zur inneren Ruhe.
Dann kommen die Januartage 2007, die Bayern machen ihr Wintertrainingslager in Dubai.
In der Nacht vom 7. auf den 8. Januar wird Uli Hoeneß aus dem Bett geklopft. Der Besucher hat sich telefonisch angekündigt. Aber so schnell war nicht mit seinem Erscheinen zu rechnen. Vor seinem Hotelzimmer steht Deisler, der Hochbegabte mit dem schweren Gemüt und den kaputten Knien. Noch im Bademantel erfährt Hoeneß davon, dass Deisler seine Karriere beenden will. Mit knapp 27.
Sie reden die Nacht durch, Deisler schläft nach Stunden im Gästezimmer der Manager-Suite ein. Das Schauspiel wiederholt sich in den nächsten Nächten bis zur Abreise, die Deisler am liebsten sofort antreten will.
Der Manager kämpft wie ein Löwe um den Karrieremüden. Vergeblich. Noch auf dem Rückflug, auf der Gangway, erzählt es Deisler Hoeneß. Nun ist es endgültig.
Kaum aus Dubai zurück, laden die Bayern am Dienstag, 16. Januar, zu einer Pressekonferenz. Hoeneß eröffnet sie Punkt zwölf Uhr: „Es ist kein angenehmer Anlass, weswegen wir sie hergebeten haben. Ich mache es kurz: Sebastian Deisler beendet seine Fußballkarriere.“ Die Hauptperson, die auf rund fünf Millionen Euro netto verzichtet, macht es nicht viel länger: „Klar kann ich noch so ein bisschen mitspielen, aber mit der richtigen Freiheit ist es vorbei. Ich habe kein Vertrauen mehr in mein Knie. Ich bin glücklich mit meiner Entscheidung, das bin ich.“ Die Fußballnation ist erschüttert. Und dann wird doch wieder ans nächste Spiel gedacht. Aber diese prominenten Fälle haben dazu beigetragen, die Depression als Krankheit anzuerkennen und nicht als vorübergehende Laune.
Deisler hat jedenfalls für immer ausgespielt.
Später sagte er: „Ich glaubte, im Kreise vieler Stars untertauchen zu können. Aber eigentlich kam ich schon verletzt nach München. Mein Knie war kaputt und auch mein Kopf.“
Seine Profibilanz: 137 Einsätze in der Bundesliga und 36 für Deutschland. Dreimal Deutscher Meister, dreimal Pokalsieger. Viel zu wenig für einen wie ihn, aber was bedeutet das gegen seinen Seelenfrieden? Den findet er erst nach der Karriere. Er lebt zurückgezogen in Freiburg, hat einen Sohn. Über seine berufliche Situation ist laut Wikipedia „nichts bekannt“.
- Fun Fact: Weil Uli Hoeneß ungern verliert, setzte Bayern den Vertrag mit Deisler (bis 2009) nur aus, damit seine Rückkehr jederzeit möglich gewesen wäre. Er wurde nicht bezahlt, blieb aber spielberechtigt.
- Fun Fact 2: Seine Biographie, 2009 erschienen, trägt den Titel „Zurück ins Leben„.