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Sind wir peinliche EM-Gastgeber?

Im EM-Halbfinale gegen Frankreich wurde Marc Cucurella bei jeder Ballberührung gnadenlos ausgepfiffen. Das Münchner Publikum sollte sich schämen

Foto: Imago / Ulmer / Teamfoto

Inhaltsverzeichnis

Bei der Heim-WM 2006 hatten wir Deutschen ein Leitmotiv: Die Welt zu Gast bei Freunden. Das Motto wollte ich unbedingt bei der Heim-EM 2024 auffrischen, wenn halb Europa seine besten Mannschaften zur Europameisterschaft nach Deutschland schickt. 

Seit Dienstagabend weiß ich: Wir sind nicht nur peinliche Gastgeber - wir haben sogar Freunde verloren. Das deutsche Publikum in der Münchner Allianz-Arena pfiff den spanischen Verteidiger Marc Cucurella in einer Lautstärke aus, dass man sich nur schämen kann. 

Er hat sich das nicht anmerken lassen, er spielte seinen Part beim Halbfinalsieg über Frankreich (2:1) professionell herunter. Der Finaleinzug ist Entschädigung genug. Aber in Spanien ist die Hölle los. „Objekt des Zorn“, war dort zu lesen, von einer „nicht zu verachtenden Niveaulosigkeit“.

Ja, Cucurella kostete Deutschland mit seinem nicht geahndeten Handspiel im EM-Viertelfinale den Einzug ins Halbfinale. Das ist ärgerlich und regt mich noch heute auf. Aber konnte er etwas dafür? Die Tomaten, ums es auf Altdeutsch zu sagen, hatte Schiedsrichter Taylor auf den Augen.

Cucurella machte, was jeder deutsche Spieler in der Situation getan hätte: Er spielte das Unschuldslamm und versteckte sich hinter der Ausrede, dass der Schiedsrichter die Situation zu entscheiden hat und nicht er. Er selbst wollte nur das Beste für die Mannschaft - keinen Elfmeter.

Erwarten wir wirklich, dass er während des Spiels zum Schiedsrichter geht und ihm beichtet: Sorry, Mr. Taylor, das war Hand! Bitte pfeifen Sie einen Strafstoß für Deutschland! Das ist jetzt wirklich ein wichtiges Spiel: Bitte bestrafen Sie uns! Das ist blanker Unsinn.

Wir Deutschen hatten im Achtelfinale auch keine einzige Sekunde Gewissensbisse, als der Däne Andersen mit seinen Fingernägeln einen unbedeutenden Flugball berührte und vom Videobeweis überführt wurde. Das Klagelied seines Trainers Hjulmand über die Handspielregel ließ uns kalt.

Jetzt sind wir selbst Leidtragender und stürzen uns mit Wut auf einen Spieler, der seinen Arm nicht schnell genug aus der Flugbahn von Jamal Musialas Torschuss bekam. Das war Hand, klar. Ich bin sauer und wünsche Schiedsrichter Taylor noch immer den vorgezogenen Ruhestand.

Aber Cucurella? Die Pfiffe gegen ihn lassen uns in Spanien, wo wir so gerne Urlaub machen, wie schlechte Verlierer dastehen. Zugegeben, nicht alle Zuschauer haben gepfiffen. Doch so viele, dass die Botschaft übers Fernsehen unüberhörbar jedes Wohnzimmer erreichte.

Wir Deutschen haben im Ausland eh schon unseren Ruf zerkratzt. Zuletzt bei den Holländern: Die Bahn fuhr gestern nicht, Trainer Koeman verpasste seine eigene Pressekonferenz vorm EM-Halbfinale gegen England. Ich schäme mich zutiefst für unser Land, wenn sowas passiert.

Wir haben schnell Erklärungen zur Hand, wenn die einfachsten Sachen nicht funktionieren. Und vielleicht müssen wir wie bei der Deutschen Bahn akzeptieren, dass wir’s nicht besser hinbekommen. Aber auf unberechtigte Pfiffe verzichten, das sollten wir schaffen.

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