Der Pfostenbruch am Bökelberg
Mitten im Titelkampf fiel in Mönchengladbach 1971 das Tor um. Daraus entstand ein wildes Schauspiel vor dem DFB-Schiedsgericht
Inhaltsverzeichnis
Frei nach einer Redewendung macht der Fußball im April, was er will. Es ist der Monat der Wechselfehler, der manipulierten Spiele und der von Panik getriebenen Trainerwechsel in der Bundesliga. 1971 wurde auch die erste Rote Karte gezückt. Im selben Jahr brach am Mönchengladbacher Bökelberg der Pfosten. Beinahe hätte er auch die Titelchancen von Borussia Mönchengladbach zerstört, aber dann hatte der Fußballgott ein Einsehen.
Man schreibt den 3. April 1971. Der amtierende Meister Borussia Mönchengladbach streitet sich, wie in jenen Tagen üblich, mit Bayern München um die Tabellenführung und will sie an diesem 27. Spieltag 1970/71 zurückzuerobern. Doch Werder Bremen, der Tabellenachte, macht es der Elf von Trainer Hennes Weisweiler schwer. Zwar fehlen den Bremern nicht nur Nationalspieler Horst-Dieter Höttges und Torjäger Werner Görts, sondern auch noch der erkrankte Trainer Robert „Zapf“ Gebhardt. Aber bis zur 88. Minute halten sie einen Auswärtspunkt fest in der Hand. Borussia rennt unermüdlich an, was auch das Eckenverhältnis dokumentiert. Das nämlich wird auch schon vor 50 Jahren gezählt, es steht kurz vor Schluss 24:8 Ecken. Auf der von Hand betriebenen Anzeigetafel aber steht ein 1:1, denn der überragende Bremer Keeper Günter Bernard, 1966 im WM-Kader, ist schier unüberwindlich.
Dann endlich fällt es doch noch, das Tor. Aber ein Treffer ist es nicht. Niemand jubelt nach Günter Netzers Freistoß, den der eingewechselte Herbert Laumen zu erreichen versucht. Der Mann, der an diesem Tag schlagartig berühmt wird, muss es sein weiteres Leben lang immer wieder erzählen.
Das kann er besser als jeder Schreiber, der doch nicht dabei war. Also lassen wir ihm den Vortritt: „Freistoß Netzer, ich steige mit Anlauf hoch, Bremens Torwart Bernard fischt den Ball weg und ich segle rückwärts ins Netz. Ich höre ein Krachen, und schon kippt der Pfosten zur Seite. Wenig später lag ich wie ein Fisch im Netz, ich kam alleine gar nicht mehr raus.“
Die Zuschauer lachen, so etwas haben die meisten noch nicht gesehen. Zwar brechen im deutschen Fußball seit Kriegsende immer wieder mal Pfosten, denn sie sind wie seit Anbeginn des Spiels aus Holz und das wird schon mal morsch, aber in der Bundesliga ist es nie passiert. Das Novum vom Bökelberg jedoch wird ein Unikat bleiben, weil die Folgen für die Platzherren allen anderen Klubs zur Abschreckung dienen.
Kabinengeflüster
Meine verrückten Erlebnisse als Fußballreporter. Anekdoten und Geschichten, was tatsächlich hinter den Kulissen passiert. Portofrei.
Ein solches Chaos wünscht sich keiner. Nach Laumens Befreiung bleibt die Frage: Wie geht es weiter?
Drei Bremer Spieler versuchen den Pfosten wieder aufzurichten. Was gelingt, doch einige im Innenraum befindliche Zuschauer werfen ihn wieder um. Ob aus Jux oder um zu dokumentieren, dass in diesem faulen Stück Holz der Wurm ist und es schon beim nächsten Pfostentreffer wieder umfallen würde? Oder weil ihnen daran gelegen ist, dass das Spiel abgebrochen wird?
Der junge Schiedsrichter Gerd Meuser aus Ingelheim, der erst sein viertes Bundesligaspiel leitet, fordert Kapitän Günter Netzer vergeblich auf, aktiv zu werden. Mitspieler Herbert Wimmer gesteht Jahre später: „Netzer stellte sich gegenüber dem Schiri die ganze Zeit über taub, denn das 1:1 war uns zu wenig und wir waren auf ein Wiederholungsspiel aus.“
Doch selbst wenn nicht, ist auch an der Argumentation der Spieler was dran. Anonym fallen gegenüber der Presse Zitate wie „Wir sind doch Fußballer und keine Bauarbeiter“. Der verzweifelte Meuser schlägt ernsthaft vor, dass Ersatzspieler den Pfosten für die verbleibenden zwei Minuten festhalten sollen.
Borussia weigert sich, angeblich aus versicherungstechnischen Gründen.
Die eigentliche Blamage sowohl für den Verein als auch für den DFB: Ein Ersatztor gibt es nicht, weil es keine entsprechende Vorschrift gibt. Ein Retter wird dringend gesucht und erscheint aus den Katakomben in Person von Platzwart Willi Evers. Sein Reparaturversuch mit Hammer, Nägeln und einem Stück Holz scheitert: „Da kann man nichts machen“, meldet er dem Schiedsrichter. Nach zwölf Minuten Wartezeit bricht Meuser die Partie ab.
Erstmals in der Bundesliga. Und nun? Schnell fällt der Blick auf die Präzedenzfälle: Sieben hat es in der Oberliga bis 1963 gegeben. Während beispielsweise das Essener Derby 1952 wiederholt wurde und RWE gegen Schwarz-Weiß 8:1 gewann, wurde der Karlsruher SC für den Vorfall bestraft. Die Punkte gingen in der Berufung an Jahn Regensburg, die 3:1 geführt hatten. Zunächst hatte der DFB 1953 entschieden, die verbleibenden 20 Minuten nachzuholen. Damit war der Rahmen für die Sportgerichtsverhandlung in gesteckt: Wiederholung, Wertung für die Gäste oder Nachspielen der Restzeit. Weil sie nur zwei Minuten betrug, schlug der Kicker eine vierte Möglichkeit vor: „Das Spiel wird 1:1 gewertet.“ Das sei „die sportlichste Lösung, weil die Begegnung zu 99,9 Prozent so zu Ende gespielt worden wäre.“ Im Sinne aller Fußballfans forderte das Magazin in Balkengröße zudem: „Entscheide schnell, DFB!“
Schließlich ging es ja um den Ausgang der Meisterschaft, niemand wollte im Endspurt eine schiefe Tabelle und für Nachholtermine ist nur noch wenig Platz im Kalender. Dennoch vergehen beinahe vier Wochen bis Klarheit besteht: Am 29. April entscheidet das Sportgericht auf eine 0:2-Wertung und 1500 D-Mark Geldstrafe gegen Borussia. Warum?
Dem Meister wird seine offenkundige Passivität zum Nachteil ausgelegt, man hätte sich quasi mehr verzweifelte Bemühungen gewünscht. Technische Fragen spielen eine untergeordnete Rolle für das Urteil, und man äußert sogar Verständnis für die Unmöglichkeit, das Problem zu lösen. Der Platzwart darf das unwidersprochen auch vor den Schranken des Gerichts verdeutlichen. Er hätte „Drillbohrer, Presslufthammer, Flaschenzug und Kran“ benötigt, um den metertief verankerten Pfostenstumpf auszubuddeln.
Der für das Spiel zuständige DFB-Beobachter Dr. Julius Engbrocks hatte schon im Vorfeld der Verhandlung konzediert: „Unmöglich, das Tor in der gegebenen Zeit ordnungsgemäß herzurichten oder ein neues Tor an die Stelle des alten zu setzen.“
Neue Tore werden am Donnerstag nach dem Unglück am Bökelberg eingesetzt. Wieder aus Holz, aber mit runden Ecken und frisch.
Das bringt Borussia die Punkte auch nicht zurück, und so legt sie Protest gegen das Urteil ein. Der scheitert am 19. Mai – drei Spiele vor Saisonende – vor dem DFB-Bundesgericht, das auch die Zeugenaussage von Netzer nicht umstimmen kann. „Ich habe sofort den Vize-Präsident Helmut Grasshoff und den Platzwart unterrichtet“, beteuert er und sogar vorgeschlagen, Letzterer könne den Pfosten doch festhalten.
Schiedsrichter Meuser behauptet indes, dass er niemals abgepfiffen hätte, wenn er gemerkt hätte, dass von Seiten der Borussia etwas unternommen worden wäre.
Richter Dr. Rückert zieht einen Schlussstrich: „Wir sehen es als erwiesen an, dass Gladbach zumindest fahrlässig gehandelt hat. Es wurde nicht mit genügender Sorgfalt versucht, das Tor wieder in Ordnung zu bringen.“
Nun tobt nicht nur der Mob. Borussias Fans malen böse Transparente gegen den DFB, der den Bayern zum Titel verhelfen wolle, und Trainer Hennes Weisweiler zürnt, er wolle im Falle des Falles die Meisterschale nicht anfassen. Aber als er sie am 5. Juni in einem Herzschlagfinale dank Bayerns Niederlage in Duisburg doch noch bekommt, greift er zu. Zumindest der Ärger ist vergessen.
Für Herbert Laumen gehört der Pfostenbruch zu seinem Leben wie sein Name an der Tür. Mancher nannte ihn nun „Pfostenbruch“ statt Herbert. zum 40. Jubiläum des gefallenen Tores veräppelten sie ihn sogar auf der Vereinshomepage: Laumen habe alles geplant und den Pfosten schon in der Nacht zuvor angesägt, weil er eine Firma zur Produktion der danach sukzessive eingeführten Aluminium-Tore gegründet habe. Aber das war nur ein April-Scherz. Die Aluminium-Tore wurden allerdings wirklich Pflicht, Holz-Pfosten kann man nur noch im Museum sehen.
- Fun Fact 1: Laumen ist der erste Bundesligaspieler, der seinem Verein schon vor Vertragsbeginn Punkte bescherte. Denn er hatte vor der Partie bei Werder unterschrieben und wechselte im Sommer 1971 nach Bremen.
- Fun Fact 2: Der Pfosten schaffte es ins Museum des neuen Borussen-Stadions, das übrigens auch eine Loge namens „Pfostenbruch“ besitzt. Veredelt mit den Autogrammen der Meister von 1971, aber auch einige Bremer haben sich verewigt auf dem morschen Stück Fußballgeschichte.
- Fun Fact 3: Nur einmal fiel auch im Europapokal ein Tor bei einem Spiel mit deutscher Beteiligung um. In Madrid rissen Real-Fans es vor Anpfiff der Champions League-Partie gegen Borussia Dortmund um. Wann? 1998, am 1. April!