Klinsmann und der legendäre Tonnen-Tritt
Wann immer Bayern gegen Freiburg spielt, kommt die Erinnerung an Jürgen Klinsmanns legendären Auftritt bei seiner Auswechslung hoch
Inhaltsverzeichnis
Die Erinnerung ist noch frisch. Im April verloren die Tuchel-Bayern das Halbfinalspiel im Pokal zu Hause gegen den SC Freiburg in der fünften Minute der Nachspielzeit durch einen Elfmeter von Lucas Höler. Es war der erste Freiburger Sieg bei den Bayern in ihrer Vereinsgeschichte. Ansonsten setzte es fast nur Niederlagen (20) – und dreimal reichte es zu einem Unentschieden.
Nicht nur diese Bilanz lässt die Bayern mit Zuversicht am Sonntag ins nächste Duell gehen, sie sind ja immer Favorit. Dass sie das nicht vor Ausrutschern schützt, lässt sich auch durch ein Spiel zwischen diesen beiden Klubs belegen. Es wurde weniger durch das Ergebnis (0:0) als vielmehr durch ein Ereignis berühmt – den größten Ausraster nach einer Auswechslung in der Liga-Geschichte.
Wir schreiben das Jahr 1997, es ist die Zeit des FC Hollywood. Bayern München sorgt seit Mitte der Neunziger unaufhörlich für Schlagzeilen – wegen seiner schillernden Trainer und Superstars. Manche sagen, es begann mit der Rückkehr von Lothar Matthäus aus Mailand 1992. Nach Franz Beckenbauer und Otto Rehhagel sitzt nun in seiner zweiten Amtszeit Giovanni Trapattoni auf der Trainerbank, er bekommt eine wichtige Rolle in diesem Stück.
Dass einer Tonne die Hauptrolle zu Teil werden würde, hätte sich aber nicht mal ein Hollywood-Regisseur ausdenken können.
Hinein ins randvolle Olympiastadion, in dem die Bayern noch acht Jahre dahoam sein werden. An diesem 10. Mai stellt sich den 63.000 Zuschauern nur die Frage nach der Höhe des Sieges. Gegen den bereits feststehenden Absteiger aus Freiburg ist man allgemein in der Erwartung eines Schützenfestes, obwohl Tore in der Ära Trapattoni eher selten sind. Unter ihm herrscht die italienische Catenaccio-Mentalität: Wenn Bayern 1:0 führt, wechselt Trap Verteidiger gegen Stürmer ein. Hauptsache: gewinnen.
Im Titelrennen mit Verfolger Bayer Leverkusen dürfen sich die Bayern keinen Ausrutscher leisten. Aber es gibt einen – und einen Ausraster dazu, der Geschichte schreibt. An diesem 31. Spieltag 1996/97 wird das Kuriositäten-Kabinett der Bundesliga um eine Episode bereichert, die so legendär wird wie das Helmer-Tor, der Kutzop-Elfmeter oder der Gladbacher Pfostenbruch. Dafür sorgen wird kein Geringerer als der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, der im zweiten Jahr bei den Bayern spielt und seinen Abschied zum Saisonende bereits beschlossen hat: Jürgen Klinsmann.
Der Welt- und Europameister ist angefressen, der Stern des 32-Jährigen im Sinken. Trotz 13 Saisontoren steht er in der Kritik, besonders wegen seiner Technik. Zwei Wochen zuvor macht die Zeitschrift Sport Bild eine Leser-Umfrage und stellt Fragen wie: „Wie bewerten Sie Klinsmanns Fähigkeit, den Ball zuzupassen?“ Die meisten Leser votieren für „Mittel“ (52 %), vor „gut“ (38 %) und „schwach“ (10 %). Eine knappe Mehrheit findet, er sei über seinen Zenit (53%).
Giovanni Trapattoni, bereits in Mailand sein Trainer, scheint das auch zu finden. Als der Italiener ihn in der Vorwoche im Münchner Derby bereits zum elften Mal auswechselt, zischt Klinsmann: „Was wäre passiert, wenn sie das früher mit einem Rummenigge oder Hoeneß gemacht hätten? Wahrscheinlich bin ich zu brav.“
Da kündigt sich der Wutausbruch schon an, der gegen Freiburg noch einen letzten Anstoß braucht. Zur Pause wechselt Trapattoni Brecher-Typ Carsten Jancker ein und beordert Klinsmann nun auf den linken Flügel. Denn mit Ruggiero Rizzitelli steht ein dritter Stürmer auf dem Platz, es wird eng vor dem Freiburger Tor.
Die Degradierung zur Randfigur passt Klinsmann nicht, Trapattoni interveniert immer wieder. „Und da haben wir uns angebrüllt.“ Das lässt sich der Mister nicht bieten. In der 80. Minute beordert er Bundesliga-Debütant Carsten Lakies aus der eigenen Amateurabteilung an den Spielfeldrand und gibt das Signal zum Auswechseln. Der Assistent hält die Tafel mit der Nummer 18 hoch, und Mario Basler eilt an die Außenlinie. Ein Versehen, er trägt ja die 13. Die 18 aber hat Klinsmann, das wissen die Fans – es ist das meistverkaufte Trikot im Fanshop.
Für den Fanliebling ist das Dutzend an Auswechslungen in jener Saison nun voll. Und das Maß des Erträglichen auch. Schimpfend geht er vom Feld. Statt den Trainer abzuklatschen, wie das so üblich ist, macht er mit den Händen das Finito-Zeichen. Er scheint seinen Abschied vier Wochen vorzuverlegen. Bayern war ein Riesenfehler, das ist ihm in diesem Moment der Demütigung besonders bewusst.
All das Theater mit seinem Erzfeind Lothar Matthäus, der ihn öffentlich unterstellt hat, gegen seine Rückkehr in die Nationalmannschaft intrigiert zu haben, und nun auch noch ein Trainer, der ihn trotz erfolgreicher gemeinsamer Vergangenheit nicht stützt. Tief steckt der Frust in ihm, er muss unbedingt raus. Zum Glück entlädt er sich an einem leblosen Gegenstand.
Eine mannshohe Werbetonne des Batterie-Herstellers Sanyo steht neben der Ersatzbank, und hier landet Klinsmann nun doch noch einen Treffer. Mit Wucht tritt er mit seinem rechten Fuß ein Loch in die Mitte der Tonne und entstellt das N in Sanyo. Seinen Frust merkt man ihm deutlich an, seinen Schmerz nicht. Jahre später erst gesteht Klinsmann:
„Was keiner wusste: Ich habe mir bei dem Tritt gewaltig den Knöchel aufgeschürft an der Tonne. Doch davon ließ ich mir, vor Scham über den Ausbruch, nichts anmerken.“
Kein Wunder, im Inneren befinden sich Metallverstrebungen und Nägel. Während der Wirbel in der Presse noch tagelang andauert (Bild titelt: „Der Amok-Tritt“), hat sich Klinsmann schon wieder beruhigt. Er entschuldigt sich noch im Stadion bei Trapattoni, der sagt nur: „Schon vergessen.“
Auch vor der Presse spricht Klinsmann, der sich seiner Vorbildfunktion als DFB-Kapitän schlagartig wieder bewusst wird, von „einem Riesenfehler“ und „einer Überreaktion, es tut mir leid“. Nicht mal eine Strafe muss er bezahlen, sagt Manager Uli Hoeneß nachsichtig. Aber so ganz erledigt ist die Sache nicht. Am Abend geben die abwandernden Spieler Jürgen Klinsmann, Christian Ziege, Oliver Kreuzer und Marcel Witeczek bereits ihren Ausstand, und natürlich blüht der Flachs über den Tonnentritt, der Bundesliga-Geschichte schrieb.
- Fun fact 1: Klinsmann erhält ein paar Wochen später einen Präsentkorb voller Batterien von Sanyo als Dank für die Gratiswerbung. Der Marketing-Leiter hofft, Klinsmann könne die Tonne signieren, „auf jeden Fall werden wir sie als Ausstellungsstück aufbewahren“.
- Fun fact 2: Die Tonne landet dann doch bei Ebay. Später ist sie im Besitz eines Stuttgarter Feinkosthändlers, der sie im September 2006 für 3000 Euro ersteigert, zu Gunsten Klinsmanns Stiftung für notleidende Kinder. Später landet die Tonne im Bayern-Museum – Hoeneß ließ sie kaufen.