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Ich will meine 80er-Jahre zurück!
Der Kolumnist hadert: Deutschland fliegt im EM-Viertelfinale raus, aber alles soll toll gewesen sein? Früher lief das noch ganz anders
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Ich bin am Sonntag sehr melancholisch geworden. Das EM-Finale fand ohne Deutschland statt. Und dann auch noch in einem Zweitligastadion. Da ist ganz schön viel schiefgelaufen, dachte ich.
Auf allen Kanälen redeten die Menschen darüber, wie großartig das deutsche Team bei der EM aufgetreten war. Dabei lagen die vom Lob betroffenen Spieler längst auf ihren Yachten und schmorten in der Abendsonne. (Nur Kai Havertz saß wahrscheinlich zu Hause und versuchte verzweifelt, wenigstens an der Playstation 5 eine seiner 125 vergebenen Top-Chancen reinzumachen.)
Ich halte dieses Dauerlob nicht mehr aus. Ich will meine 80er-Jahre zurück.
Wir sind im Viertelfinale ausgeschieden, so früh wie noch nie bei einem Heimturnier. Sogar England kam weiter als wir. Wenn Deutschland bei der EM 1988 nicht unter die letzten Vier gekommen wäre, hätten Wolfgang Rolff und Frank Mill danach als Kellner arbeiten müssen.
Niemand hätte gesagt: Süß, wie sympathisch die aufgetreten sind!
Nein, der deutsche Fußball war damals im Wesen unsympathisch, unberechenbar und schlecht – aber erfolgreich. So eine Art Elon Musk mit Stollen. Jeder hatte Angst vor unserem nächsten Schritt. Also Tritt.
Wenn uns ein Gegner krumm kam (oder noch schlimmer: richtig schön Fußball spielen wollte wie die Franzosen 1982), stoppten wir ihn mit einem Knochencheck und unserem unbeugsamen Willen. Damals lag Deutschland in der Verlängerung des Halbfinales mit 1:3 zurück, glich mit Klaus Fischers Fallrückzieher aus und gewann dann halt im Elfmeterschießen. Den Fallrückzieher aus dem Nichts macht heute ein Engländer – Jude Bellingham gegen die Slowakei. Verrückte Welt.
Zur Not nahmen wir damals sogar Friedensverhandlungen mit Österreich auf. Wie 1982 in Gijón. Die Welt hasste uns für dieses hingebogene 1:0. Egal, wir waren eine Runde weiter. Wir hätten für den Erfolg unsere Großmutter an RB Leipzig verkauft, wenn es das schon gegeben hätte.
Ich will meine 80er-Jahre zurück.
Was ist bloß aus dem deutschen Fußball geworden? Wir haben unser Erbe verraten. Berieseln uns mit Eigenlob, versichern weinend, dass alles wunderbar ist. Spielen richtig schönen Fußball, bleiben aber dauernd hängen wie Jamal Musiala. Die gute alte Notfallflanke von früher scheitert daran, dass der einzige Mittelstürmer auf der Bank sitzt.
Aber: Alles toll. Tränen des Glücks. Europa zu Gast bei Freunden. Nur einer stemmte sich dagegen: Toni Kroos. Aber zwei Fouls von ihm, und wir riefen schon den UN-Sicherheitsrat an.
Sogar Stefan Effenberg hat sich kürzlich positiv über den deutschen Fußball geäußert. STEFAN EFFENBERG! Freunde der Sonne!
In den 80-er Jahren wäre das nicht passiert. Wir waren so richtig geil schlecht, kamen aber immer weiter. Wir wurden in zehn Jahren einmal Europameister, standen zweimal im WM-Finale, einmal im EM-Halbfinale. Und wir hatten nur zwei, drei Topspieler.
Den Rest füllten wir mit Typen auf, die im Seewolf-Vierteiler als Schiffscrew von Raimund Harmstorf hätten mitspielen können. Leute wie Toni Schumacher, Horst Hrubesch, Dieter Hoeneß und Hans-Peter Briegel hätten gegen Spanien kein 1:2 kassiert, weil die Spanier zu diesem Zeitpunkt schon ihre Waden behandelt hätten.
Ja, genau: Briegel. Ein Zehnkämpfer.
Einmal lief es doch schief. 1984 bei einer EM. 0:1 gegen Spanien – trotz Briegel. Aber die DFB-Bosse haben sofort ihre Konsequenzen gezogen und Bundestrainer Jupp Derwall in die Wüste geschickt, damit der Platz für den Kaiser persönlich frei wurde. Franz Beckenbauer baute danach ohne Trainerschein an der Mannschaft, die das Jahrzehnt mit dem WM-Sieg abschloss. 1990 wurden wir Weltmeister, weil wir dem besten Spieler der Welt, Diego Armando Maradona, einfach den Hahn abdrehten. Der Klempner hörte auf den Namen Guido Buchwald.
Ich will damit ja nicht andeuten, dass Nagelsmann das Derwallsche Schicksal erleiden soll. Aber müssen wir ihn direkt auf Händen tragen, weil er drei Sätze geradeaus reden kann und nicht wie seine zwei Vorgänger in der Vorrunde rausflog?
Vor dem Anpfiff gingen die deutschen Kapitäne damals in den Achtzigern mit einem Freundschaftswimpel zum Mittelkreis, der die Nacht zuvor in Chilipulver eingelegt worden war. Die ganze Welt regte sich über uns auf und dieses unansehnliche Gerumpel. Aber in den Achtzigern wurde auch der Mythos geboren, dass wir uns nie aufgeben. „Gazzetta dello Sport“ schrieb: Die Deutschen sind erst tot, wenn der Sarg sorgfältig zugenagelt wurde, zwei Meter unter der Erde liegt, und man seit einer Stunde kein Geräusch mehr gehört hat.
Wenn Spiele angepfiffen wurden, war die Welt zu Gast bei Feinden. Die Menschen hassten uns für unsere Humorlosigkeit. Und nach dem Abpfiff schauten sie fassungslos auf ihre Tippscheine und heulten.
The Winner war mal wieder: Deutschland.
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