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Günter Netzer wird heute 80! Interview mit einer Legende

Guido Schäfer, Chefreporter bei der Leipziger Volkszeitung, hat am selben Tag Geburtstag wie die Fußball-Legende. Hier ist seine Liebeserklärung

Foto: Imago / Team 2

Inhaltsverzeichnis

Von Guido Schäfer

Meine Liebe zu Günter Netzer entbrennt im Alter von acht Jahren, als Klein-Guido im Frottee-Schlafanzug vorm neuen TV-Endgerät (Nordmende) lümmelt und mit den Erwachsenen die 1972er EM gucken darf. Zwei Dinge werden mir schnell klar.

Wenn ich die auf einem roten Samt-Tuch ruhende Fernbedienung auch nur berühre, bin ich des Todes. Zweitens: Wenn die in den engen schwarzen Hosen den Ball haben, hat ihn entweder Franz Beckenbauer oder Günter Netzer, nie der Schwarzenbeck, der, wie ich später erfahre, beim DFB und den Bayern eine Art Leibeigener von Beckenbauer ist. Deutschland gegen UdSSR, ich merke an den Aufgeregtheiten im rauchgeschwängerten Wohnzimmer, dass es wichtig ist.

Der Reporter ist weniger entflammt als Mama und Papa, er hat nur eine Tonlage mit nach Brüssel gebracht. „Beckenbauer, Netzer, Müller, Tor für Deutschland.“ Die Eltern jubeln, der Lambrusco im Bastkörbchen kreist, ich darf am Korken lutschen. Ich kann mich an viele 1972er Details meiner Erweckung zum Netzer-Jünger erinnern, seine Laufstärke, Sprints und schweißnasse Hemden fehlen entschuldigt. Konnte er nicht, wollte er nicht, musste er nicht. Netzer war ein Feldherr, der seinen Fuß auf dem Ball parkte, seinen Scheitel sortierte und nach schnellen und schnell Schwitzenden wie Uli Hoeneß Ausschau hielt.

Nach der Europameisterschaft lief mein Leben in sehr festen Bahnen. Schulschluss, Kicken auf Feld, Wald, Wiese, Glückseligkeit. Während meine Mitspieler einen auf Sepp Maier, Franz Beckenbauer oder Gerd Müller machen, trage ich das Haar länger, schlage die längsten Pässe, mache die wenigsten Meter.

Außerhalb des Habitats Feld, Wald, Wiese trage ich Schlaghosen, knöpfe mein einziges schwarzes Hemd bis zur nichtvorhandenen Brustbehaarung auf, lege mir einen Matchbox-Ferrari zu.

Ich sauge alles über Netzer auf, bin begeistert über den ersten gelungenen Doppelpass zwischen ihm und Herrn Bonhof anno 1973, benehme mich wie mein großes Vorbild. Als mich mein D-Jugend-Trainer 1974 beim TV Haßloch ins Tor stellt, kassiere ich ein Gegentor, weil ich mich vorm Einschlag tief nach einem vierblättrigen Kleeblatt bücke. Der Coach wird zum HB-Männchen, der zehnjährige Guido-Günter wirft ihm die Handschuhe vor die Füße. „Ich stürme dann jetzt mal, Trainer!“ 

Leider flimmert mein Idol Günter Netzer damals vergleichsweise selten in unserem Nordmende-Monster. Die Bayern sind in Mode, spielen gefühlt jeden Mittwochabend. Am 17. Mai 1974 gegen Atletico Madrid. Der Reporter sagt, dass der berühmteste spanische Verein nicht Atletico, sondern Real Madrid ist. Ich frage in die Lambrusco-Runde: „Warum liegen die Bayern gegen den zweitberühmtesten spanischen Verein 0:1 zurück?“

Dann fällt das 1:1, der Reporter ruft: „Schwarzenbeck! Schwarzenbeck! Schwarzenbeck!“ Seit wann darf der denn an den Ball treten? Nach dem Rückspiel-4:0 gegen Atletico stemmt Beckenbauer den Pokal. Kein Netzer weit und breit.

Er fehlt mir, mein Günter Netzer.

Bei der WM 1974 ist Netzer in der Tiefe des Raumes verschwunden, taucht kurz gegen die DDR auf und spielt im Finale keine Minute. Als Deutschland Weltmeister wird, zähle ich sechs Bayern-Spieler. „Fußball ist unser Leben, König Fußball regiert die Welt“ - die Platte mit dem Horror-Lied steht ewig bei uns im Regal. Für mich ist sie ein Mahnmal an eine WM ohne den Besten, mein Idol.

Ich werde 1988 Zweitliga-Kicker in Mainz, schreibe von 1998 an über meine große Liebe Fußball. Mein Karriere-Highlight: ein Interview mit, jaaa, Günter Netzer. Ort der Handlung am 20. Januar 2012: Die Top-Location „Bayerischer Bahnhof“ in Leipzig, von wo aus der legendäre „Waldis Club“ des legendären Waldemar Hartmann gesendet wird. Netzer ist Waldis Stargast und hat noch eine Stunde Zeit bis zum Sendebeginn. Ich versuche mein Glück bei meinem Idol, frage, ob er Zeit für die Leipziger Volkszeitung und einen Mann hat, der wie er am 14. September geschlüpft ist. Netzer: „Setzen Sie sich, junger Mann.“  

Netzer, damals 67, beglückt Schäfer, damals 47, mit fantastischem Wortwitz, Charme, Einblicken. Hier ein paar Auszüge aus einem unvergesslichen Abend mit dem einzigartigen Günter Netzer.


Haben Sie den Grimme-Preis wegen oder trotz Herrn Delling gewonnen, Herr Netzer?

Günter Netzer: Trotz gefällt mir. Werde ich ihm bei nächster Gelegenheit mitteilen.

Vermissen Sie das Rotlicht, den großen Auftritt, Herrn Delling?

Nein. Ich habe 1977 bewusst aufgehört, Fußball zu spielen. Und 1986 bin ich bewusst als HSV-Manager ausgestiegen. Der Fußball hatte meine Energie abgesaugt. Und nach 13 Jahren mit Delling war es dann auch genug. Es gibt viele, die mit dem Lasso von der Bühne geholt werden müssen.

Wann waren Sie am glücklichsten?

Als Fußballer. Da habe ich für mein Hobby Geld bekommen. Ein Privileg, das ich intensiv genossen habe.

Kann es sein, dass Sie den Begriff Hobby in Gladbach etwas zu wörtlich genommen haben? Es geht die Legende, dass Sie weniger trainiert haben als Normalsterbliche wie Berti Vogts.

Das war so. Es gab Zeiten, da war ich der Überzeugung: Ich kann auch ganz gut ohne Training auskommen.

Das hat Ihrem Chef Hennes Weisweiler bestimmt super gefallen.

So super, dass er irgendwann die Kommunikation mit mir eingestellt hat und Berti Vogts als Botschafter benutzte. Ging dann so: Berti, richte deinem langen Freund aus, dass es schön wäre, wenn er Mal wieder an einer kompletten Einheit teilnehmen könnte. Ich zu Berti: Richte dem Weisweiler aus, dass mir die letzte Einheit noch in den Knochen steckt. Berti zu mir: Das sag’ ich dem nicht, der bringt uns beide um.

Als Sie noch mit Weisweiler sprachen, soll es zu einem Richtungsstreit über Sturm & Drang gekommen sein.

Weisweiler sah durch mich seinen Ruf als Offensiv-Trainer gefährdet. Wenn ich mal das Tempo rausgenommen habe, hatte ich am nächsten Tag eine Privataudienz. Trainer, sagte ich, wir können nicht 90 Minuten nach vorne rennen.

Und was sagte er?

Sie können nicht 90 Minuten rennen, Sie, Netzer.

Auf die Frage, wann Abseits ist, sagte Weisweiler einst: Abseits ist, wenn das lange Arschloch wieder zu spät abgespielt hat.

Ich fand den Satz damals nicht so lustig wie heute. Außerdem habe ich nie zu spät abgespielt. Im Zweifel sind meine Mitspieler falsch gelaufen. Im Ernst: Ich habe Weisweiler alles zu verdanken. Er hat mich gemacht.

Dass Sie sich beim 73er Pokalfinale gegen Köln selbst eingewechselt haben, ist bekannt. Dass Ihnen Real-Präsident Santiago Bernabéu an die blonde Mähne wollte, wissen nur Insider.

Die Verhandlungen waren kurios. Er fragte, was ich verdienen will. Ich: 350 000-D-Mark. Er: Verlassen Sie diesen Raum. Ich war am Gehen, da rief er: Was ist es ihnen wert, für Real zu spielen? Dass man Geld mitbringen muss, um da zu spielen, war mir nicht bekannt. Dann sagte er: Die drei muss vorne weg. Wir haben uns auf 295 000 Mark geeinigt.

Im Jahr. So viel bekommt heutzutage ein mittelmäßiger Spieler im Monat. Sie sind zu früh geboren, Herr Netzer.

Ich habe gerne in den 70ern gespielt, wir hatten viel mehr Freiheiten als die Spieler jetzt. Ich wollte am Ende meiner Karriere finanziell abgesichert sein. Ist mir halbwegs gelungen.

Bei Real standen lange Haare und Schnurrbärte auf dem Index.

Bernabéu mochte meine Frisur nicht, hat sie mir aber gelassen. Als Paul Breitner kam, musste Bernabéu doppelt leiden. Paul hatte einen Pavian-Bart und sooo eine Mähne. Ich habe mich für Paul verbürgt.

Sie galten als erster Playboy des deutschen Fußballs, fuhren einen Ferrari, als sich Berti Vogts noch in einen Käfer quälte. Wie haben Sie sich Ihre Verehrerinnen vom Hals gehalten?

Ich war immer 100-prozentig auf den Fußball konzentriert.

Gewiss, Herr Netzer.

Sagen wir’s mal so: Ich hätte mehr machen können.

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