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Einigkeit, Respekt und Vielfalt

Nein, es läuft nicht alles rund bei der EM 2024. Aber doch genug, dass Deutschland ein bisschen stolz sein darf. Eine Zwischenbilanz

Foto: Imago / Chai v.d. Laage

Inhaltsverzeichnis

Deutschland schickt sich an, ein zweites Sommermärchen zu produzieren. Auch wenn die Bahn nicht immer pünktlich kommt, das Wetter nicht immer mitspielt, die türkischen Spiele auf der Berliner Fanmeile irritierenderweise nicht zu sehen waren. Gleichzeitig gibt es zuhauf rührende Geschichten um gefundene Geldbörsen und Rucksäcke, loben Gästefans das Land, selbst in Berlin ist eine selten gesehene Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit ausgebrochen.

Die Sehnsucht vieler Menschen nach einem Reload der Stimmung rund um die WM 2006 ist groß, auch auf den Amateurplätzen. Kein Wunder, die täglichen Meldungen über Kriege, Hunger, Terror und Bedrohung der Demokratie fühlen sich nicht gut an. Da soll zumindest der Fußball ein wenig Freude ins Land bringen. Ich durfte zu diesem Thema an einem längeren Radio-Talk teilnehmen.

Ein zweites Sommermärchen? Was Fußball bewirken kann
18 Jahre nach dem “Sommermärchen” soll Deutschland wieder ein erfolgreiches Fußball-Heimturnier erleben. Wie es ein Stimmungsaufheller in trübem Umfeld sein kann, diskutieren Sandra Schwarte und ihre Gäste.

Der Wunsch nach Zerstreuung ist groß. Kritische Nebengeräusche werden als störend empfunden. Wie die Diskussion um die großartige Dokumentation „Einigkeit und Recht und Vielfalt“, produziert vom ehemaligen Spieler des FC Internationale, Philipp Awounou. Die mit mir beim RBB diskutierende Theaterautorin und Radioeins-Fußballexpertin Dagrun Hintze befand gar: „Wir sollten mal aufhören diesen Kram zu reproduzieren. Man muss den Menschen das nicht noch in den Mund legen und ins Gehirn pflanzen.“

Gemeint waren die Ergebnisse der Befragung, in der ein Fünftel angab, die deutsche Nationalmannschaft solle wieder weißer werden!!! Hintze liegt mit ihrer Einschätzung auf einer Linie mit dem Hobby-Soziologen Joshua Kimmich, der das Ganze Quatsch nannte, Julian Nagelsmann bezeichnete die Studie gar als „Scheißumfrage“. Aber kann es überhaupt einen falschen Zeitpunkt geben, um über Rassismus im Fußball zu reden?

Sportschau: Einigkeit und Recht und Vielfalt – Die Nationalmannschaft zwischen Rassismus und Identifikation
Welche Rolle kann eine vielfältige deutsche Nationalmannschaft im Einwanderungsland Deutschland haben? Wie hat sich die DFB-Elf seit den 90er-Jahren gewandelt? Und wer fühlt sich von ihr vertreten? Mit Jonathan Tah, Shkodran Mustafi und Gerald Asamoah erzählen drei aktuelle und ehemalige Nationalspieler vom DFB-Team als gesellschaftlichem Phänomen und Identifikationsobjekt. Sie erzählen von Rassismus, von Anfeindungen - aber auch wie der Fußball zur Integration beitragen kann. Und von dem Stolz, das DFB-Trikot zu tragen, auch wenn nicht jeder in Deutschland sich kurz vor der EURO 2024 im eigenen Land mit einem multikulturellen Team identifiziert.

Younis Kamil, mein Mitstreiter bei den Hartplatzhelden und Vorsitzender des Amateurvereins Internationaler SportClub AlHilal Bonn, sieht das genau wie Otto Addo grundlegend anders. In einem bemerkenswerten Interview mit der Zeit sagt Younis: „Wenn ich am Tag auf der Straße 100 Menschen begegne und davon mehr als 20 nicht damit einverstanden sind, dass ich hier bin – dann finde ich das aus einer Betroffenenperspektive hart.“

WDR-Umfrage: “Meine Kinder machen Rassismus-Erfahrungen wie ich vor 40 Jahren”
Jeder Fünfte will eine “weißere” Nationalmannschaft. Die Empörung über die Frage geht am Problem vorbei, sagen Experten und Betroffene. Was stattdessen getan werden muss.

Der Fußball wird gern als Spiegelbild der Gesellschaft verklärt. Ein Stück weit mag das sogar stimmen. Das würde dann aber heißen, bei jedem Fußballspiel stehen durchschnittlich vier bis fünf bekennende Rassisten auf dem Platz. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl für manches Amateurspiel zu niedrig angesetzt ist. Gleichzeitig sind aber auch viele lobenswertere Beispiele hervorzuheben, von Profis wie Amateuren.

Schließlich wollen wir feiern und uns nicht mit den unschönen Seiten beschäftigen. Hört man sich um, ist das Sommermärchen 2.0 für viele nicht der richtige Kontext, um über Rassismus zu reden. Wo sich doch alle Völker des unter Druck befindlichen vereinten Europas gerade so gut verstehen. Zumindest auf den Fanmeilen.

Spätestens mit Beginn der neuen Saison werden wir sehen, wie nachhaltig diese Erscheinung ist. Apropos Nachhaltigkeit: Zur kommenden Spielzeit werden wir ein neues voll kreislauffähiges Trikot vorstellen. Vorsichtshalber werden wir es wie gewohnt mit dem großen Aufdruck NO RACISM produzieren. Das ist seit mehr als 30 Jahren unser bescheidener Beitrag für die internationale Solidarität auf dem Fußballplatz. Nach und nach folgen uns andere Vereine, wofür wir sehr dankbar sind.   

In der RBB-Sendung nutzte ich die Gelegenheit, auf die Bedarfe des Amateurfußballs hinzuweisen. Tut erstaunlicherweise trotz rund 2 Millionen Aktiven in 135.000 Teams sonst kaum jemand. Die EM steht im Zeichen der Nachhaltigkeit, unter diesem Motto ist sie an Deutschland vergeben worden: „united by football“ ist zwar ähnlich uninspiriert wie die DFB-Slogans „Fußballzeit ist die beste Zeit“ oder „Echte Profis – unsere Amateure“. Aber egal, nehmen wir die kreativen Ergüsse der Werbetexter beim Wort.

Nachhaltigkeit steht auf drei Säulen:

  • Ökologie
  • Ökonomie
  • Soziales

Mit der dritten tun sich Sportvereine traditionell am leichtesten. Viele engagieren sich in Schulen oder Kitas, nehmen Geflüchtete in ihre Teams auf oder betreiben mit ihren ehrenamtlichen Trainern einfach „nur“ ordentliche Jugendarbeit.

Viele Clubs leisten deutlich mehr als mancher staatlich geförderte soziale Träger. Während viele Jugendzentren trotz geringen Zulaufs meist über mehrere Sozialarbeiter verfügen, steht selbst Amateurvereinen mit mehr als 500 Kindern und Jugendlichen so eine Stelle nicht zur Verfügung. Warum eigentlich nicht?

  • Die Politik erkennt vielerorts die großen Potenziale des Breitensports nicht
  • Die Vereine haben nicht das Selbstverständnis, sich als Jugendhilfeträger zu verstehen
  • Die Funktionäre in den Sportverbänden sehen scheinbar keinen Anlass, sich dafür einzusetzen. Tradition und fehlender Veränderungswille prägen ihr Wirken.
  • Die Sportberichterstattung konzentriert sich bis auf wenige Ausnahmen auf Spielergebnisse und die oftmals mit gefährlichem Halbwissen garnierten persönlichen Einschätzungen. (So wird bspw. dauernd über Christiano Ronaldo geredet, aber der geniale Bernardo Silva wird mit fast keiner Silbe erwähnt!) Wie man den Sport für die Gesellschaft nutzen kann, wird nur selten erörtert.
Sozialarbeit und Fußball - Das Potenzial versiegt an den Fördertöpfen
Fußball kann zum gesellschaftlichen Zusammenhalt viel beitragen. Ein Vorbild dafür sind der FC Internationale Berlin und die gGmbh Rheinflanke. Mangels Finanzierung stößt deren Kooperation an Grenzen. Doch es gibt Ideen, das zu lösen.

Dabei veröffentlichte doch der DFB, also die Dachorganisation aller Landesverbände und damit aller deutschen Fußballerinnen und Fußballer, eine hoch interessante Studie: Demnach beträgt die soziale und ökonomische Wertschöpfung ausschließlich durch den Amateurfußball gewaltige 13,9 Milliarden Euro pro Jahr.

Wertschöpfung des Amateurfußballs pro Jahr 13,9 Milliarden Euro
Die soziale und ökonomische Wertschöpfung durch den Amateurfußball beträgt laut einer UEFA-Studie 13,9 Milliarden Euro pro Jahr. DFB-Präsident Fritz Keller stellte die Ergebnisse mit UEFA-Vizepräsident Karl-Erik Nilsson heute vor.

„Glaube nur der Statistik, die du selbst manipuliert hast!“ Ich kenne den Spruch aus meiner Marketinghistorie. Doch diese Ergebnisse kommen von der Uefa, die zehn Universitäten in ganz Europa mit dem Forschungsprojekt beauftragte. 

Der Amateurfußball ist, anders als in den großen Stadien, die letzte Institution, in der Menschen aller Milieus und Schichten zusammenkommen. Hier spielen Millionäre, Facharbeiter und Taxifahrer in einer Mannschaft, und häufig gibt nicht der Millionär den Ton an. Hier trainieren Kinder von Villenbesitzern mit solchen aus wirtschaftlich benachteiligten Haushalten. Hier haben manche Jugendliche ihre einzigen Erfolgserlebnisse. Der Unterschied zur Schule ist für viele von ihnen: Zum Fußballverein kommen sie freiwillig und gern. 

„United by Football“ oder „die Welt zu Gast bei Freunden“. Ich mag beides, ebenso natürlich das berühmte Zitat des großen Nelson Mandela „Sport hat die Kraft, die Welt zu verändern!“, das frei übersetzt so weitergeht: „Er hat die Kraft, zu inspirieren und Menschen zu verbinden, wie es wenig anderes vermag. Er spricht zur Jugend in einer Sprache, die sie versteht.“

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