„Ein Matthäus gibt nie auf“
Selten weckte ein Transfer Emotionen wie der von Lothar Matthäus 1984, als er von Gladbach zu den Bayern ging. Einer sprach von "Volksverhetzung"
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Sie waren die großen Rivalen der Siebziger Jahre. Doch zwischen Bayern München und Borussia Mönchengladbach wurde nur auf dem Platz mit harten Bandagen gekämpft, die Spieler waren sich sympathisch und feierten mit der Nationalmannschaft glänzende Erfolge. Den großen Keil trieb erst ein Transfer, der vor 40 Jahren publik wurde und den Borussen-Fans dem Überläufer nie verziehen, zwischen die Vereine. Damit sind wir mitten im Leben des jungen Lothar Matthäus.
Schon zehn Jahre spielte Karl-Heinz Rummenigge für die Bayern, nur zweimal war er Meister geworden, im Nachhinein eine kaum glaubliche Bilanz. Schon im Frühjahr 1983 trug sich der damalige DFB-Kapitän mit dem Gedanken, noch mal eine andere Sprache zu lernen.
Zwar wurde sein Vertrag noch mal verlängert und aufgebessert, aber das planmäßige Ende 1987 erlebte er nicht mehr in München. Am 13. März 1984 schlug die Nachrichtenbombe in der deutschen Fußballlandschaft ein: Rummenigge zu Inter Mailand. Die Bayern kämpften nicht mehr um ihren größten, auch nicht mehr ganz jungen Star und nahmen umso lieber die Ablösesumm; denn finanziell stand ihnen das Wasser bis zum Hals.
Die 10,5 Millionen DM entschuldeten den Klub auf einen Schlag. Noch bevor das Geld auf dem Vereinskonto eingetroffen war, waren sie schon dabei, es auszugeben. „Bayern-Millionen machen die Bundesliga verrückt“, titelte der Kicker vor 40 Jahren. Sie mussten ja schließlich die Lücke schließen, die ihr Anführer und bester Torschütze (am Saisonende gewinnt er ein drittes Mal die Torjägerkanone) hinterlassen würde. Für die Tore wollten sie Rudi Völler, bekamen aber nur den Zweitligabomber Roland Wohlfarth aus Duisburg. Als Leader brauchten sie einen Spieler anderen Formats.
Den hatten sie schon länger im Visier: Lothar Matthäus, Gladbachs jugendlicher Antreiber, schon mit 19 als Reservist Europameister und nun mit 23 auf dem vorläufigen Höhepunkt seines Schaffens. Mit Borussia kämpfte er um die Meisterschaft und den Pokal, die Fans liebten den impulsiven und dynamischen Franken.
Doch in München hatten sie immer schon ein Faible für Stars von Konkurrenten. So sprachen ihn die Bayern bereits im November 1983 an. Ein paar Monate später wurde der Wechsel beschlossen. Matthäus: „Im Düsseldorfer ‚Interconti’ machte ich mit Uli Hoeneß alles klar. Ein Bild-Reporter hatte irgendwie davon Wind bekommen. Als er mich auf einen Wechsel zu Bayern ansprach, griff ich zu einer Notlüge: ‚Da ist nichts dran’.“
Dann versuchte Matthäus, auf Zeit zu spielen. Erst nach dem Spiel gegen Bayern wolle er bekannt geben, ob er nach München wechsle. Das tat er am 24. März und dämpfte die Freude über einen 3:0-Heimsieg jäh. Er ginge „aus sportlichen Gründen“. Heynckes kommentierte bissig: „Allein das Geld hat entschieden, sportlich hat er bei uns genauso gute Perspektiven.“
Jupp Heynckes war besonders getroffen. Fünf Jahre war er nun Trainer der Borussia, fünf Jahre war Matthäus sein Spieler. Ohne Übertreibung durfte er sagen, er habe ihn groß gemacht. Matthäus sagte selbst noch Jahrzehnte später: „Jupp Heynckes war mein größter Förderer.“
Mit Engelszungen hatte er auf Matthäus eingeredet, am Bökelberg zu bleiben. Schließlich bot er sogar Manager Helmut Grashoff an, ihm die Differenz zwischen dem aktuellen Gladbacher und dem neuen Münchner Gehalt vom Lohnzettel abzuziehen, nur damit Matthäus nicht nach München ginge. Doch vergebens.
Grashoff nannte rücksichtslos Zahlen: „Wir haben das Angebot um 100.000 Mark auf 474.000 Mark erhöht. Wenn er trotzdem geht, zeigt das nur, dass seit langem alles klar war und dass die Bayern sich als Geldprotz der Bundesliga geben.“ Nun sollten sie wenigstens bluten, die Bayern. Er drohte mit dem DFB-Schiedsgericht, das in Ablösestreitigkeiten, mit denen zu rechnen war, damals einschritt.
Matthäus musste derweil in den letzten Wochen der Saison 1983/84 Spießruten laufen. Wegen der Notlüge und des Wechsels – der war bei der damaligen Rivalität der ersten Bundesliga-Supermächte in den Augen der Gladbacher Fans Hochverrat. Anfang April gegen Frankfurt wurde er ausgebuht und verschoss prompt einen Elfmeter. „Die pfeifen doch nicht, weil ich schlecht war, sondern weil ich nach München gehe. Das finde ich nicht in Ordnung“, jammerte er.
Doppelt ärgerlich für Heynckes und seine Borussen: Die Leistung von Matthäus litt aufgrund des Wechselwirbels. Und so setzte er seinen besten Spieler ohne Begründung an Ostern bei Waldhof Mannheim auf die Bank. Der Presse sagte er später: „Wäre er bei uns geblieben, hätte er die ganze Krise vielleicht nicht gehabt, wäre er psychisch besser mit sich klar gekommen.“ In der Mannschaftssitzung an Karfreitag 1984 war er noch einsilbiger gewesen: „Lothar, Sie sitzen morgen auf der Bank.“ Mehr nicht.
Bis 20 Minuten vor Schluss, da stand es 1:2 – und Heynckes warf ihn ins Feuer. Der wutgeladene Matthäus bog das Spiel prompt mit zwei Toren um. Eine vielsagende Episode über den Menschen Lothar Matthäus, der über sich selbst auch viel gesagt hat, gern in der dritten Person. Derart: „Ein Lothar Matthäus gibt nie auf.“
An jenem Tag fand er auch vor der Kamera klare Worte: „Aus welchen Gründen auch immer Heynckes mich nicht aufgestellt hat, er hätte mir das persönlich sagen und nicht vor der Mannschaft mitteilen sollen“, drückte der Schützling seine Enttäuschung über den Mentor aus. Heynckes sah sich bestätigt und sagte: „Vielleicht war dies ein ganz entscheidender Tag in der Laufbahn von Lothar.“
Die führte ihn nun aber schnurstracks nach München – und zwar schon vor der neuen Saison. Ohne Genehmigung der Borussia, die bei Reisen über 200 Kilometer notwendig waren, flog er Ende April in die bayerische Metropole und unterschrieb in der Anwaltskanzlei von FCB-Präsident Willi O. Hoffmann den Drei-Jahres-Vertrag, der Borussia 2,27 Millionen DM einbrachte und Matthäus eine Strafe. Grashoff: „Offenbar sind unsere Regeln für den Lothar nicht mehr gültig. Wir werden ihn vereinsintern bestrafen.“
Matthäus‘ Wunsch, „im Guten von Borussia zu scheiden“, wurde immer unwirklicher und platzte endgültig in seinem letzten Spiel.
Die Geschichte bekam da noch eine Pointe, die sich kein Regisseur ausdenken konnte, ohne sich den Kitsch-Vorwurf einzuhandeln. Borussia und Bayern kamen am 31. Mai ins Pokalfinale, das erst im Elfmeterschießen entschieden wurde. Zwei Borussen verschossen, einer war Matthäus. Es war nicht der entscheidende Fehlschuss, aber der, den sich alle einprägten.
Natürlich hatte er das mit Absicht gemacht, zürnten die schlichteren Geister unter den Borussia-Fans. Nun war er erst recht der Judas und bei seiner Rückkehr an den Bökelberg am 11. Dezember 1984 (3:2 für Borussia) musste er durch die Hölle.
In den Tagen davor flogen schon Giftpfeile zwischen München und Mönchengladbach, Matthäus leistete sich laut Kicker „einige dümmliche Bemerkungen“ über den Ex.
Grashoff erteilte ihm Hausverbot für das Klubheim, ein Ordner hinderte Kinder daran, sich Autogramme von ihm zu holen, und die Fans pfiffen ihn bei jedem Ballkontakt aus. „Der Grashoff hat alle vergiftet“, sagte Matthäus. Uli Hoeneß sprach gar von „Volksverhetzung“. Noch 15 Jahre später wurde Matthäus in Mönchengladbach ausgebuht – wehe, wenn Du zu den Bayern gehst.
- Fun Fact 1: Matthäus und Heynckes arbeiteten 1987/88 noch ein Jahr zusammen, denn dann ging auch der Trainer zu den Bayern, wo er nach drei weiteren Stationen und dem Triple-Gewinn 2013 längst Kult ist.
- Fun Fact 2: Matthäus löste Rummenigge auch als Torjäger ab und schoss in seiner ersten gleich die meisten Treffer (16) – als Mittelfeldspieler.
- Fun Fact 3: Matthäus ist heute Mitglied in der Hall of Fame in beiden Vereinen – bei Bayern München und bei Borussia Mönchengladbach. Das schaffte nur ein weiterer Profi: Stefan Effenberg.