Ein Dutzend für die Ewigkeit

Die zwölf Gladbacher Tore gegen Dortmund schrieben Bundesliga-Geschichte. Noch heute gibt's böse Gerüchte um das Fernduell mit Köln

|19. Oktober 2023|
Ein Dutzend für die Ewigkeit
Ein Dutzend für die Ewigkeit

Foto: Imago / Horstmüller

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Borussia Mönchengladbach und der 1. FC Köln – lange Jahre war ihr Duell das um die Nummer 1 am Rhein. Bis Bayer Leverkusen dazu kam und nicht selten vor den beiden Gründungsmitgliedern der Liga stand. Es gab auch einmal eine Saison, zwei Jahre vor Leverkusens Aufstieg, da spielten die beiden Vereine den Deutschen Meister aus. In einem Fernduell, das Geschichte schrieb.

Wegen der WM in Argentinien endet die Bundesligasaison 1977/78 schon am letzten April-Wochenende. Ganz Fußball-Deutschland fiebert jenem 29. April entgegen, denn wieder einmal entscheidet sich der Kampf um die Meisterschaft am letzten Spieltag. Obwohl er für manche schon entschieden ist: Der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach gehen zwar punktgleich ins Saisonfinale, aber die vom Gladbacher Meistertrainer Hennes Weisweiler trainierten Kölner haben eine um zehn bessere Tordifferenz und spielen beim Letzten, bei Absteiger FC St. Pauli.

Meister Mönchengladbach trifft im Ausweichstadion von Düsseldorf zwar auch auf einen Gegner, für den es um nichts mehr geht, doch Borussia Dortmund scheint ein anderes Kaliber zu sein als die Kiez-Kicker, die ihre erste Bundesligasaison überfordert hat. Wenn also Köln nicht ausrutscht, wie soll Borussia dann noch Meister werden? Dazu bedarf es schon eines Schützenfestes nie gesehenen Ausmaßes – und damit rechnet kaum einer. Mancher hat sich dann doch verrechnet an diesem Tag…

Eine unrühmliche Hauptrolle in dieser Posse spielt die von Otto Rehhagel trainierte Dortmunder Borussia. Sie ist damals nur ein Klub der Mittelklasse und kickt zwei Jahre zuvor noch 2. Liga. Man liegt auf Platz 11 und würde am liebsten gar nicht mehr spielen. Schon vor 20 Jahren unterhielt ich mit dem Gladbacher Libero von 1978, Wilfried Hannes, über das Spiel, und der sagte mir: „Es war brütend heiß. Als wir ins Stadion kamen, waren die Dortmunder schon da, hatten ihre Hemden ausgezogen und lagen auf dem Rasen. So war auch ihre Einstellung.“

Jupp Heynckes, Borussias großer Torjäger, wird nach seinem letzten Bundesligaspiel sagen, dass die Dortmunder „gedanklich schon im Urlaub“ gewesen sind. Er will zum Abschied noch mal Meister werden und ist besonders motiviert. Gleich der erste Schuss nach 27 Sekunden ist drin. Schon zur Pause steht es 6:0, die Hälfte der Tore geht auf sein Konto.

Im Hamburger Volkspark steht es erst 1:0 für Köln. Dass sie dort spielen, entspringt einer Kölner List. Die Verantwortlichen wollen dem Gegner den Heimvorteil am Millerntor nehmen und argumentieren, sie würden so viele Fans mitbringen, dass man doch besser in den Volkspark ginge. In den Augen von St. Paulis Bossen leuchten plötzlich die Dollar-Zeichen, und sie schlagen ein. Auch der DFB stimmt zu. Es kommen dann statt der erhofften 60.000 doch nur 25.000 an jenem verregneten Samstag in Hamburg.

In Düsseldorf aber scheint die Sonne. Das ist nicht der Grund, warum Peter Endrulat im Tor steht. Wie schon in den fünf vorherigen Partien vertritt er den verletzten Horst Bertram, mehr schlecht als recht. Rehhagel hat ihn in der Vorwoche nach einem Gegentor öffentlich kritisiert. Am Tag des Spiels kommt dann mit der Post seine Kündigung, wie ihm seine aufgelöste Frau telefonisch mitteilt. Nicht gerade motivierend für einen 23jährigen, seine Zukunft ist plötzlich sehr vage. „Vor dem Spiel sollte der Vertrag eigentlich verlängert werden, doch dazu kam es nie“, erinnert sich der Sündenbock weit nach der Karriere, denn dieses Spiel „hat mir für die erste Liga das Genick gebrochen. Ich hätte sonst mehr als sieben Bundesligaspiele gemacht.“

Rehhagel fragt ihn in der Halbzeit, ob er raus wolle, aber er will nicht: „Ich habe eigentlich gut gehalten, trotzdem waren sechs Bälle drin. Ich wollte wenigstens noch etwas glänzen, damit die Presse wenigstens über mich gut berichtet.“

Heute weiß er: „Ich wäre besser rausgegangen.“ Denn es werden noch mal so viele Tore fallen, er wird an diesem Tag der Torwart, der beim noch immer höchsten Bundesliga-Ergebnis der Geschichte im falschen Kasten stand. 12:0!

Schuld wird er nie empfinden. 2003 sagt er dem Kicker, er kreide sich nur zwei Tore an, 2008 ist es gegenüber 11 Freunde nur noch ein Tor – als er vor dem 10:0 eine Flanke unterläuft, „da war schon eine gehörige Portion Frust mit dabei.“

All das macht das Desaster etwas verständlicher, zu entschuldigen ist es nicht wirklich. Die Arbeitsmoral aller Dortmunder ist am Boden, Rehhagel sagt schon in der Halbzeit, dass sie sich schämen sollen. Routinier Siggi Held, Vizeweltmeister von 1966, verweigert sogar seine Einwechslung: „Soll ich die Sch… etwa noch umbiegen?“, fragt er Rehhagel. Nach 77 Minuten ist Kölns Vorsprung im Fernduell auf drei Tore geschmolzen.

Aber zehn Minuten vergehen zwischen dem 10:0 und dem 11:0, währenddessen Bernd Cullmann und Yasuhiko Okudera in Hamburg für ein 0:5 sorgen. Gladbachs Aufholjagd erscheint nun doch aussichtslos. Weiter machen sie trotzdem, mit Christian Kulik verewigt sich in letzter Minute ein siebter Borusse auf der Anzeigetafel. Aber es reicht nicht, Köln wird mit drei Toren Vorsprung bis heute letzten Mal Deutscher Meister.

Dass es so kam, sehen die Gladbacher damals wie heute mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Der damalige Kapitän Berti Vogts sagte später noch oft: „Es war schon ganz gut so, sonst hätte man unsere Meisterschaft sicher noch angezweifelt.“

Keine Zweifel hat dagegen Otto Rehhagel. Schon auf der gemeinsamen Heimfahrt nach Essen sagt der BVB-Trainer zu Manfred Burgsmüller, dass er am nächsten Tag wohl einen anderen Trainer haben werde. So kommt es auch. Der vom Boulevard als „Otto Torhagel“ verspottete Coach wird entlassen, „da keine Vertrauensbasis mehr gegeben ist“, wie Präsident Heinz Günther erklärt.

Die Gerüchteküche brodelt tagelang weiter: Waren die Dortmunder bestochen? Schon nach dem Abpfiff fordert Kölns Mittelfeldspieler Herbert Neumann, dass „Dortmund vom DFB eine Strafe bekommen“ müsse.

Und der DFB ermittelt tatsächlich. Chefankläger Hans Kindermann: „Wir werden uns um das Spiel kümmern. Solche Leute, die helfen, den Ast abzusägen, auf dem der deutsche Fußball sitzt, müssen bestraft werden.“

Beweise aber werden sich nie finden. Dennoch: Alle Spieler müssen noch im August 1978 eine Erklärung unterschreiben, sie hätten sich unsportlich verhalten. Ihr Klub verhängt Strafen (bis zu 2500 D-Mark) und jagt sie in der Sommerpause über die Dörfer. Was auch eine Strafe ist, wie BVB-Verteidiger Lothar Huber erzählt: „Wir mussten uns gefallen lassen, als Betrüger beschimpft zu werden. ‚Wo steht denn nun dein neues Haus, dein neues Auto?‘, riefen die Zuschauer. Sie glaubten allen Ernstes, wir hätten dieses Spiel verkauft.“

Die Kölner Fans glauben das noch immer. Damals sowieso. Auf der Meisterfeier am Rathaus singen sie spöttisch: „Gladbach hat umsonst bezahlt.“ Aber auch um Kölns Sieg wabern Gerüchte. Der große Udo Lattek, damals Gladbachs Trainer, hat mir 2005 erzählt, die Kölner sollten St. Pauli noch in der Halbzeit ein kostenloses Freundschaftsspiel angeboten haben. „So wurde es mir zugetragen. Wenn es aber darum geht, etwas zu beweisen, dann…“*

  • Fun fact 1: In der Bundesligahistorie gab es sechs zweistellige Ergebnisse: Immer waren Borussia Mönchengladbach (4x als Sieger) oder Borussia Dortmund (1x als Sieger, 2x als Verlierer) beteiligt. 1978 beide.
  • Fun fact 2: Auf der Anzeigetafel im Düsseldorfer Rheinstadion wäre für ein dreizehntes Tor kein Platz mehr gewesen.