Hamburger SV: Die Horrorbilanz in Essen

Am Sonntag tritt der Hamburger SV im DFB-Pokal bei Rot-Weiss Essen an. Ein Zweitligist bei einem Drittligisten. Klare Sache, möchte man meinen - wenn da nicht die Vorgeschichte wäre.

|10. August 2023|
Hamburger SV: Die Horrorbilanz in Essen
Hamburger SV: Die Horrorbilanz in Essen

Foto: Imago / Jöran Steinsiek

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Diese neue Kolumne auf Fever Pit’ch ist nicht dazu da, den HSV schlecht zu machen. Dafür gibt es andere, aber an offenkundigen Tatsachen wird hier künftig auch nicht vorbeigeschrieben. Und Tatsache ist: Blamagen in der 1. Pokalhauptrunde sind eine Spezialität des ehemaligen Bundesliga-Dinos, ich will hier keine Wunden aufreißen – außer vielleicht die von Eppingen, Geislingen, Jena, Osnabrück, noch mal Osnabrück… Lassen wir das.

Ebenfalls Tatsache ist: Die Pokalbilanz des HSV bei Rot-Weiss Essen ist besorgniserregend und markierte historische Tiefpunkte seiner Vereinsgeschichte, wenn das auch kaum noch jemand wissen dürfte. Deshalb dieser Text.

Die beiden epochalen Niederlagen liegen so weit zurück, dass man nur noch wenige Überlebende der fußballerischen Gemetzel findet. Die erste gab es weit vor Gründung der Bundesliga, in Berlin stand noch nicht mal die Mauer.

Beim HSV stand an jenem 1. Februar 1953, als er seine bis heute höchste Pokalniederlage kassierte, nicht mal ein Abwehrmäuerchen, als er im Stadion an der Hafenstraße, das elf Jahre später nach RWE-Präsident Georg Melches benannt werden sollte, antrat. Obwohl mit Jupp Posipal und Fritz Laband zwei kommende Mitglieder der Weltmeister-Helden von 1954 auf dem Platz standen, wurde der HSV von den Rot-Weißen regelrecht überrollt.

Im Gegensatz zu heute trat er zwar nicht als klarer Favorit die Reise in den Westen an, aber als Tabellenführer der Oberliga Nord und ehemaliger Deutscher Meister. RWE war Dritter im Westen, hatte einige verheißungsvolle Spieler wie einen gewissen Helmut Rahn im Kader und gerade erst Erkenschwick mit 9:0 abgefertigt. Da der Pokal auch damals schon, als er erstmals nach dem Krieg wieder ausgespielt wurde, seine eigenen Gesetze hatte, kam dann ein Spiel zustande, das so keiner auf der Rechnung hatte.

Spielinfo | Rot-Weiss Essen – Hamburger SV 6:1 | Viertelfinale | DFB-Pokal 1952/53
Infos, Statistik und Bilanz zum Spiel Rot-Weiss Essen – Hamburger SV

Eine Schande, dass sich damals nur 13.000 Menschen dafür interessierten. Ich mache es kurz: RWE gewann mit 6:1 (!). Und der 24jährige Nationalspieler Bernhard „Berni“ Termath, von Beruf Kohlenhändler, schoss die ersten vier Tore. Dann durfte auch „Boss“ Rahn mal ran und nach dem Ehrentreffer durch einen gewissen Herrn Schemel machte Franz „Penny“ Islacker das halbe Dutzend voll.

Die Zuschauer bekamen eine erste Ahnung davon, dass hier die beste Mannschaft der Essener Vereinsgeschichte ihre ersten Gehversuche machte. „Der Pokal-Favorit heißt Rot-Weiß Essen!“, schrieb der Kicker in großen Lettern und sollte recht bekommen: RWE wurde am 1. Mai 1953 erster Pokalsieger nach dem Krieg und zwei Jahre später Deutscher Meister.

Sein Trainer Karl Hohmann, der bei der WM 1934 zwei Tore schoss, sagte: „Gewiss haben wir mit einem Sieg gerechnet, aber nicht mit einem Sieg in dieser Höhe, zumal die Hamburger eine anerkannt gute Hintermannschaft haben.“

Die Verlierer mussten mit dem Spott leben, der in solchen Fällen üblich ist. „Jupp, sechs Stück! Ganz schön heftig, oder?“ frozzelte Rahn, der den Kabinentalk „im Adamskostüm“ führte, Posipal. Interessant war, wie die Hamburger damals auf die Pleite blickten. „Wir waren im Feldspiel gleichwertig“, behauptete Trainer „Schorsch“ Knöpfle allen Ernstes. Immerhin steckten sie das Debakel gut weg und wurden zwei Monate später zum 16. Mal Meister des Nordens. Es war die letzte Meisterschaft ohne den Mann, der die HSV-Geschichte wie kein Zweiter prägen sollte: Uwe Seeler.

Als der HSV zum zweiten Mal im Pokal ins Georg-Melches-Stadion musste, war Uwe Seeler wieder nicht dabei. Er hatte im Sommer 1972 aufgehört und prompt stürzte sein Klub in Krise. Als Vorletzter kamen sie nach Essen und doch als Favorit, denn RWE war ja zweitklassig. HSV-Coach Klaus Ochs hatte RWE extra beobachtet, aber das half auch nichts gegen die Personalsorgen. Allen voran Abwehrchef Willi Schulz fehlte seiner Elf, die mit drei Teenagern in der hinteren Viererkette auflief. Sie erlebte ein weiteres Novum der HSV-Geschichte: Innerhalb von 15 Minuten schossen die entfesselten Essener fünf Tore, und so stand es zur Halbzeit 5:0. Es war und ist der höchste Pausenrückstand des HSV in einem Pokalspiel in der nunmehr 88jährigen Geschichte dieses Wettbewerbs.

„Wann hat der HSV schon einmal zur Halbzeit mit 0:5 im Hintertreffen gelegen?“, fragte das Hamburger Abendblatt rhetorisch und sah darin „einen Beweis dafür, dass die HSV-Abwehr ein Torso ist“. Und das, obwohl mit Manfred Kaltz ein kommender Europameister auf rechts verteidigte, aber der war damals erst 19.

DFB-Pokal 1972: Rot-Weiss Essens legendäres 5:3 über den HSV
Am 09.12.1972 trafen Rot-Weiss Essen und der Hamburger SV schon mal in der ersten Runde des DFB-Pokals aufeinander – es wurde torreich und überraschend.

Die Torschützen für RWE sind Bundesligakennern vielleicht noch bekannt: Rainer Gecks, Günter Fürhoff, Wolfgang Rausch, Willi Lippens natürlich und Dieter Bast. Damit war der HSV noch gut bedient. „Es hätte 8:0 heißen können“, stellte der Kicker fest. Auf der Tribüne musste sich Willi Schulz verhöhnen lassen. Den Reportern sagte er: „Ein 0:5 zur Halbzeit zeigt die ganze Misere auf, in der der HSV steckt.“ Das Glück der Hanseaten: Es gab damals nicht nur eine zweite Halbzeit, in der sie noch auf 3:5 verkürzten und „eine Katastrophe verhinderten“ (Trainer Ochs), sondern auch ein zweites Spiel.

In Hamburg nahmen sie zwei Wochen später im in den Jahren 1971 bis 1973 üblichen Rückspiel Rache und gewannen 5:0. Der Sieg kam allerdings zu spät, um eine unmittelbar nach dem 3:5 einsetzende Serie des Hamburger Abendblatts zu verhindern. Sie hieß schlicht: „Die HSV-Krise“. Wollen wir nicht verschweigen, dass das dritte Gastspiel im Pokal anno 2008 mit 3:0 an den HSV ging.

Und dennoch: Ein Auswärtsspiel bei einem klassentieferen Klub zum Saisonstart birgt alle Zutaten, eine Krise auszulösen. Zumal an einem Ort, der so seine Tücken hat. Der HSV soll nicht sagen, keiner hätte ihn gewarnt.