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Die bittere Wahrheit über Harry Kane und seine Engländer

Die Engländer verlieren das EM-Finale gegen Spanien mit 1:2. Das geschieht ihnen recht

Foto: Imago / Rogowski

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Als die Engländer kurz vor Abpfiff zurücklagen und sich eine allerletzte Chance zum Ausgleich bot, schickte ich von meinem Presseplatz im Berliner Olympiastadion ein Stoßgebet Richtung Himmel. Ich hege ja Sympathien für ihren Kapitän Harry Kane. Aber England und Titel gewinnen? Das ginge mir zu weit. Kein EM-Sieg soll mein Weltbild von den Engländern erschüttern.

Machen wir uns nichts vor: Wir Deutschen dürfen froh und erleichtert sein, dass die Engländer das EM-Finale gegen Spanien 1:2 verloren haben. Man stelle sich nur vor, sie hätten den ersten Titel seit 58 Jahren auf deutschem Boden gewonnen: Wir hätten uns das Siegesgeheul bis zum nächsten Titelgewinn in 58 Jahren anhören müssen.

So blieb alles beim Alten. Die Engländer wollten den Pott und bekamen einen auf den Deckel. Zum zweiten Mal nach 2021. Wer seinen Mittelstürmer Kane eine Stunde lang vorne im Angriff verhungern lässt und dann auswechselt, weil er keinen Ball verwertet, hat’s nicht besser verdient. Trainer Gareth Southgate hätte diesen Unsinn sonst als Geniestreich verkauft.

Die Engländer mögen gute Verlierer sein. Aber sie sind ganz gewiss schlechte Gewinner. Und sie hätten uns ihre wichtigste Erkenntnis aus ihren sechs EM-Spielen 2024 unter die Nase gerieben: dass die jetzt deutscher als die Deutschen selbst spielen. Man muss sich ja nur anschauen, wie sie überhaupt ins Finale gekommen sind.

Zwei Unentschieden und ein 1:0 gegen Serbien: Mickriger kann man die EM-Vorrunde kaum überstehen. Das kannte man bisher von wem? Eben. Wir haben für unsere Überlebensstrategie den Begriff „Turniermannschaft“ zurechtgelegt. Wir haben die Bezeichnung geliebt, weil sie unsere Spielweise verharmloste: hässlich spielen, aber weiterkommen. So wie England 2024.

Dann Achtelfinale gegen die Slowakei: praktisch ausgeschieden, bis Jude Bellingham in letzter Sekunde die Wende einleitete - mit einem Fallrückzieher wie unser Klaus Fischer. Noch Fragen? Viertelfinale Schweiz: Entscheidung im Elfmeterschießen. Alle fünf drin, ohne zu wackeln - das hatte mit England nichts mehr zu tun, das war typisch deutsch.

Wir, die plötzlich schönen Fußball wollen und zeigen, mussten mitansehen, wie die Engländer das „Made in Germany“ kopierten. Dieselben Engländer, die uns seit Jahrzehnten verachten und sich „das Mutterland des Fußballs“ nennen. Unter Trainer Southgate spielten sie deutsch und mischten unser Sieger-Gen in ihre Spielweise. Der Halbfinalsieg gegen Holland: fast wie 1990.

Im Finale spielten sie wieder ihren Stiefel runter: Die Spanier bekamen Ball und Rasen - und die Engländer warteten darauf, dass ihnen Glück, Zufall oder Müdigkeit die Gelegenheit zum Torschuss erlaubte. Das geschah nach ziemlich genau 45 Spielminuten zum ersten Mal. So einer Mannschaft gönnt man keine Europameisterschaft. Auch aus einem anderen Grund.

Bisher sind wir ja immer damit gut gefahren, dass England seit dem dritten Tor von Wembley 1966 nichts mehr gerissen hat und von den 28 Turnieren, die folgten, kein einziges gewonnen hat. Wir dagegen: dreimal Weltmeister, dreimal Europameister und sogar Sieger im Confed Cup 2017 in Russland: Die Herren von der Insel schauten jedes Mal belämmert, wenn wir feierten.

Mit einem EM-Sieg im Olympiastadion wäre die wichtigste Gesetzgebung des internationalen Ballsports zerschossen worden, die da heißt: Fußball ist, wenn 22 Männer hinter dem Ball her rennen und am Ende die Engländer nichts holen. Mir persönlich stinkt es ja schon, dass es seit dem Sommer kein Vizekusen mehr gibt. Zwei Gewissheiten verlieren: Das verkrafte ich nicht.

Der englische Patient spendete mir in Zeiten von Rumpelfußball und WM-Blamagen Trost, dass es dort draußen immer eine große Fußballnation gibt, die noch größeren Schrott auf dem Rasen produziert. Mit ihnen als Europameister, ohne Yang zum Ying, wäre ich verloren. Vermutlich hätten wir Deutschen sogar unsere eigene Philosophie hinterfragen müssen.

Denn wenn wir feststellen, dass die typisch deutsche Spielweise doch noch modern, weil erfolgreich ist: Wäre dann England das Maß aller Dinge und nicht mehr Spanien? Der Gedanke peinigt mich. Ich sehe lieber den Spaniern zu. Die haben uns bezwungen, bringen immer wieder Talente hervor, zeigen technische Flexibilität: Daran sollten wir uns orientieren. Nicht an England.

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