Der Kopfstoß-Skandal, der Job und Ansehen kostete
Den Nikolaustag 2005 würde Norbert Meier am liebsten vergessen machen. Aber sein Streit mit Streit holt ihn immer wieder ein
Inhaltsverzeichnis
Jedes Jahr am 6. Dezember kommt der Nikolaus in die Kinderzimmer und fragt ein bisschen drohend: Wart ihr auch schön brav? Die Antwort entscheidet für gewöhnlich, ob es Schokolade oder doch die Rute gibt. An Nikolaus 2005 stellte sich Schiedsrichter Manuel Gräfe im Bundesligaspiel zwischen dem MSV Duisburg und dem 1. FC Köln eine andere Frage: Wer von euch war der Böse?
Gräfe entschied sich schließlich für beide Beteiligten einer legendären Streiterei zwischen einem Trainer und einem Spieler, der seinen hervorstechenden Charakterzug schon im Namen trug. Statt der Rute gab es Platzverweise nach der legendären Kopfstoßaffäre, die einen Trainer um seinen Job brachte.
Die Saison 2005/06 ist diejenige, in der sich die Bundesliga besonders hübsch herausputzt. Am Ende wartet schließlich die WM im eigenen Land, und dass es ein Sommermärchen wird, ist nur zu erhoffen. An den Spielorten wird teils seit Jahren gebaut, gehämmert und geschraubt, die Stadien machen sich fein für Gäste aus aller Welt. Auf das Benehmen der Protagonisten färbt das kaum ab, in der Bundesliga wird wie eh und je um jeden Punkt hart gekämpft und je tiefer der Tabellenplatz, desto härter die Bandagen. Auf den Rängen sowieso.
Am 14. Spieltag eskaliert die Partie Hamburger SV gegen den 1. FC Köln, als ein Bekloppter im Kölner Block einen Trommelstock aufs Feld wirft und damit einen HSV-Spieler am Kopf trifft: Alexander Laas blutet und wird von Mitspieler Daniel van Buyten vom Platz getragen; er kann später weitermachen.
Im selben Spiel leistet sich Kölns Özalan Alpay eine Tätlichkeit hinter dem Rücken des Schiedsrichters und kommt zunächst ungeschoren davon. Aufgrund der TV-Bilder ermittelt der DFB dann gegen ihn. Seine Mannschaft ist erstmals in jener Saison auf einen Abstiegsplatz gerutscht, drei Tage danach geht es zum Kellerderby der Westklubs beim MSV Duisburg, das an einem Dienstagabend nachgeholt wird. Beide Aufsteiger steuern Kurs zurück in die 2. Liga, es ist ein Duell 17. gegen 16. MSV-Präsident Walter Hellmich wählt scharfe Worte: „Jetzt kommen unsere Artgenossen, die wir schlagen müssen.“
Das mag er sportlich gemeint haben, aber mancher hat es wohl missverstanden. Bis es zu jener Szene kommt, die diese Kolumne rechtfertigt, hat Manuel Gräfe schon acht Gelbe Karten gezückt – vier für beide Seiten. Dann muss er eine andere Farbe wählen. Wieso?
82 Minuten sind gespielt, es steht 1:1. Zu wenig eigentlich für beide, so kommt keiner über den Strich, der die Verlorenen von den Geretteten trennt. Die Kölner sind überlegen, tun mehr für einen Sieg und haben ein Chancenplus.
Engagiertestes Zebra ist MSV-Trainer Norbert Meier, ein Rehhagel-Schüler aus glorreichen Bremer Zeiten und nicht minder temperamentvoll an der Seitenlinie. Als unmittelbar vor seiner Coaching-Zone Kölns Albert Streit seinem Spieler Razundara Tjikuzu etwas rabiat in die Parade fährt, schnauzt Meier ihn an. Der bekannt heißblütige Streit gibt Widerworte, für eine fatale Sekunde stehen sie sich dicht an dicht gegenüber. Dann setzt es bei Meier aus.
Mit der Stirn stößt der Duisburger Trainer gegen die Nase des etwas größeren Kölners – plötzlich fallen beide um. Meier, weil er kapiert, dass es besser wäre, in einer solchen Szene das Opfer zu sein – zumal als Trainer. Und Streit, weil man das eben so macht als Profi, schließlich wurde er ja getroffen. Beide wälzen sich am Boden als hätte sie Muhammad Ali in seiner Glanzzeit niedergestreckt. Es entsteht ein Riesentumult, im Innenraum bleibt keiner auf der Bank sitzen.
Mit Mühe kann man Kölns Manager Andreas Rettig zurückhalten, auf Meier loszugehen. Manuel Gräfe verweist ihn auf die Tribüne. Wie geht es weiter? Gräfe hat noch keinen VAR, er muss selbst entscheiden und tut es wie einst König Salomon: Beide fliegen vom Platz. Für Köln bedeutet das Unterzahl, für den MSV nur fünf Minuten ohne den Cheftrainer. Es bleibt beim 1:1, das hinterher weit unwichtiger ist als der Streit-Fall um die Kopfnuss. Wie war es denn nun?
Meier bekommt Gelegenheit, den später als „schwärzesten Moment meiner Karriere“ bezeichneten Vorfall zu erklären und macht alles noch schlimmer. Er setzt das Theater verbal fort und behauptet ernsthaft: „Wir beide sind sehr dicht aneinandergeraten. Woraufhin ich mich habe hinfallen lassen beziehungsweise hingefallen bin, weil ich denke, ich habe eine Wunde davongetragen. Das sieht man und das ist einfach eine normale Reaktion.“
Doch eine Wunde kann niemand sehen. TV-Bilder beweisen: Duisburgs Wedau-Stadion hat an Nikolaus 2005 die erste Trainerschwalbe der Bundesliga gesehen und einen Trainer, der öffentlich lügt, was wiederum kein Novum gewesen ist.
Am nächsten Tag entschuldigt er sich unter der Beweislast der Bilder öffentlich und spricht von einem „klaren Blackout“, den er sich selbst „nicht erklären“ könne. Um es seinem Präsidenten zu erklären, erhält er zwei Stunden Zeit. Das Ergebnis der Anhörung: eine Abmahnung und 10.000 Euro Strafe ein – härter will der MSV wegen Meiers „zuvor untadeligem Verhalten“ nicht vergehen. Hellmich: „Für uns ist das Thema erledigt.“ Zumal sich Meier auch bei Streit telefonisch entschuldigt; der nimmt an („eine gute Geste“). Unter Fußballern ist der Friede damit wieder hergestellt. Doch was sagen die Juristen?
Der DFB ermittelt gegen ihn. Es droht ein dreimonatiges Berufsverbot wie zuvor beim Aachener Zweitligatrainer Eugen Hach, der einst einen Spieler von Energie Cottbus gewürgt hatte. Drei Monate Abstiegskampf mit einer Interimslösung? Das ist keine Option für den MSV Duisburg. So verliert Norbert Meier am 8. Dezember seinen Job. Nicht ganz zu Unrecht, das Sportgerichtsurteil vier Tage später bringt ihm drei Monate Berufsverbot und 12.500 Euro Strafe ein.
Albert Streit kommt mit einem Spiel Sperre davon, trotz Rettigs Protest im Namen des 1. FC Köln: „Hier wird das Täter zum Opfer gemacht.“
Schlimmer dran ist indes Meier, dessen Familie unter dem Blackout mitleidet. Und seine Bundesligakarriere wird jäh unterbrochen. Ein halbes Jahr später steigt er bei Dynamo Dresden in der drittklassigen Regionalliga Nord wieder ein, aber es dauert bis 2012, ehe ihm mit Fortuna Düsseldorf der Aufstieg in die Bundesliga glückt. Es ist sein zweiter Aufstieg ins Oberhaus, die Fans feiern ihn und dann erst endlich „war die Geschichte kein Thema mehr“, sagte er viele Jahre später.
Berühmt aber wurde er durch seinen Kopfstoß, den er gerne ungeschehen machen würde: „Eine absolut lächerliche Geschichte. Ich war damals selbst schockiert von mir.“ Und er zieht die richtigen Lehren daraus. Ausflippen sieht man ihn kaum noch am Spielfeldrand. 2013 beteuert er: „Ich habe dadurch eine andere Einstellung zum Fußball bekommen. Nach wie vor will ich natürlich jedes Spiel gewinnen, aber nicht um jeden Preis.“ Das gefiele auch dem Nikolaus.
- Fun Fact 1: In einem Interview von 1986 sagte Meier als Bremer Profi: „Für mich hat’s immer am meisten gebracht, wenn ich Leute zufällig getroffen habe.“
- Fun Fact 2: Nur sieben Monate später wird der Kopfstoß von einem spektakulären Wiederholungsfall in den Schatten gestellt. Im WM-Finale 2006 fliegt Frankreichs Kapitän Zinedine Zidane, der auf eine Provokation von Italiens Materazzi reagiert, in Berlin vom Platz.
- Fun Fact 3: Albert Streit galt zwar als Hitzkopf und wurde in seiner Karriere mehrmals suspendiert, aber der Platzverweis von Duisburg war sein einziger in 118 Bundesligaspielen.