Das größte Abstiegsdrama aller Zeiten

Kein Kellerkrimi der Bundesliga wird jemals an die Spannung herankommen, die Fußballfans 1999 nicht nur in Nürnberg erlebten

|15. Mai 2024|
Das größte Abstiegsdrama aller Zeiten
Das größte Abstiegsdrama aller Zeiten

Frank Baumann 1999 im Club-Trikot. Foto: Imago / Sauer

Am letzten Spieltag werden noch ein bis zwei Absteiger gesucht und vier Klubs kommen in Frage. Herzrasen ist garantiert, Tränen werden fließen, hoffentlich kein Blut. Wenn auch ein spannender Titelkampf ausgefallen ist, so ist der jährliche Überlebenskampf der immer prominenter werdenden Kellerkinder ein Markenzeichen der Bundesliga. Aber wie es auch kommen wird am Samstag, so ein Drama wie vor 25 Jahren erleben wir nicht – vermutlich nie mehr. Folgen Sie an den Abgrund und sehen Sie einen Club stürzen, der eigentlich gerettet war.

Samstag, der 29. Mai 1999. Die Bundesliga dreht ihre letzte Schleife, ihren Meister kennt sie schon seit vier Wochen. Bayern München hat den Betriebsunfall des Vorjahres repariert und Kaiserslautern nicht noch mal Meister werden lassen. Getrübt wird die Stimmung allerdings durch die Last-Minute-Niederlage im Champions League-Finale gegen Manchester United (1:2 durch zwei Gegentore binnen 106 Sekunden) kurz vor Schluss. Niemand kann sich vorstellen, dass das Geschehen im Abstiegskampf diese epische Bayern-Niederlage nach drei Tagen schon aus den Schlagzeilen und Köpfen wird verdrängen können.

Aber an vier und am Ende immer noch drei Standorten wird ein Kapitel Bundesligageschichte geschrieben, das den Stempel des Unvergesslichen trägt.

Wie ist die Ausgangslage? Mit Borussia Mönchengladbach (erstmals!) und dem VfL Bochum stehen zwei Absteiger fest, der dritte (damals gibt es keine Relegation) wird gesucht. Fünf Mannschaften kann es noch erwischen: den VfB Stuttgart, im Vorjahr noch Europacup-Finalist, den neunmaligen Deutschen Meister 1. FC Nürnberg, der im direkten Duell Aufsteiger SC Freiburg empfängt, der letzte verbliebene Ost-Klub Hansa Rostock und die Frankfurter Eintracht, die den Abstiegsplatz einnimmt, aber mit einer Serie von drei Siegen unter Feuerwehrmann Jörg Berger auf einen Punkt Richtung Ufer schwamm.

Die Situation ist wie gemalt für die Konferenz-Schaltung des Rundfunks, denn das junge Pay-TV (Premiere) bietet so etwas erst ab 2000/01 an. So werden auch die unsichtbaren Männer hinter ihren Mikrofonen zu Stars, Helden oder Hiobsbotschaftern an diesem heißen Bundesliga-Nachmittag.

Wie ist die Ausgangslage?  Eintracht Frankfurt (34 Punkte/minus 14 Tore) steht unter dem Strich und trifft zuhause auf Kaiserslautern, das in die Champions League will. Hansa Rostock (35 Punkte/minus 10 Tore) muss zu Absteiger Bochum und hat den vermeintlich leichtesten Gegner. Der SC Freiburg (36 Punkte/minus 9 Tore) muss nach Nürnberg. Der Club ist als Zwölfter (37 Punkte/minus 9 Tore) nahezu gerettet. Mehr Sorgen muss sich noch der VfB Stuttgart (36 Punkte/minus 8 Tore) machen, der zuhause gegen Werder Bremen ran muss.

Fünf Kandidaten für einen Platz, den keiner will. Obwohl: Einer hat sich gedanklich schon aus dem Abstiegskampf verabschiedet. Schon in der Vorwoche verschickte Nürnbergs Vorstand euphorisch an seine Dauerkartenkunden Angebote, denn „wir haben die erste Saison in der Bundesliga mit Erfolg hinter uns gebracht“. Nach dem Spiel ist eine Klassenerhaltsfeier geplant, per Lautsprecher werden die Besucher dazu unentwegt eingeladen. Warum auch nicht? Torwart Andy Köpke ist überzeugt: „Zu 99 Prozent bleiben wir drin. Da müsste ja wirklich alles gegen uns laufen.“ 

Das Protokoll des Abstiegsdramas

Um 15.37 Uhr fällt das erste Tor, das den Kandidatenkreis auf vier Klubs reduziert: Fredi Bobic köpft Stuttgart gegen Werder in Führung, an der sich nichts mehr ändern wird. Frankfurt bleibt auf dem Abstiegsplatz

15.59 Uhr: Freiburgs Ali Günes trifft in Nürnberg. Absteiger? Frankfurt.

16.06 Uhr: Günes setzt noch einen drauf – 0:2. Absteiger? Frankfurt.

16.07 Uhr: Oliver Neuville schießt Rostock in Bochum in Front. Absteiger? Frankfurt.

16.15: Halbzeit. Keine Tore in Frankfurt, die Eintracht geht als gefühlter Absteiger in die Kabinen, Nürnberg ist bereits auf Platz 15 abgerutscht. Der Vorsprung beträgt noch zwei Punkte und drei Tore. Spannung ist was anderes.

Wiederanpfiff

16.34 Uhr: Frankfurts Chinese Chen Yang schießt das 1:0. Absteiger? Trotzdem Frankfurt.

16.56 Uhr: Michael Schjönberg gleicht für Kaiserslautern aus. Absteiger? Ziemlich sicher Frankfurt.

16.58 Uhr: 2:1 für die Eintracht durch Thomas Sobotzik. Absteiger? Frankfurt.

16.59 Uhr: Tor für Bochum durch Stefan Kuntz. 1:1. Absteiger? Plötzlich Hansa Rostock.

17.02 Uhr: 2:1 für Bochum durch Peter Peschel. Absteiger? Ziemlich sicher Hansa Rostock.

17.05 Uhr: 2:2 in Bochum, das dritte Tor binnen sechs Minuten. Viktor  Agali gleicht aus. Absteiger? Hansa Rostock.

17.07 Uhr: 3:1 in Frankfurt durch Marco Gebhardt, der sogar noch ein Kunststück wagt und sich den Ball mit der Hacke selbst vorlegt. Absteiger? Hansa Rostock.

Die letzten zehn Spielminuten überlassen wir den Rundfunkreportern.

Günter Koch (Bayerischer Rundfunk) meldet sich aus Nürnberg. Er macht keinen Hehl daraus, dass er auch Fan des 1. FC Nürnberg ist und das hört man ihm in den folgenden Minuten an: „Freiburg hat es in der Hand, die Bundesliga zu entscheiden. Nur noch zehn Zentimeter, bestenfalls, steht der Club vor dem Abgrund. Er liegt hinten mit 0:2, das ist Alibi-Fußball.“

Doch das 0:2 reicht vorerst beiden, weshalb auf dem Platz verhandelt wird. Freiburgs Ralf Kohl erzählt später: „Da haben wir mit ein paar Nürnberger Spielern gesprochen und waren der Meinung: 0:2, das reicht uns beiden, lass uns langsam machen.“ Doch es ist kein Nachmittag für verlässliche Prognosen, der Fußball zeigt sich in den letzten zehn Minuten der Saison 1998/99 von seiner faszinierendsten Seite – seiner Unberechenbarkeit.

Zurück in die Konferenz:

17.07 Uhr: Dirk Schmidt (Hessischer Rundfunk): „Tor in Frankfurt.“

Günter Koch: „Wer hat da geschrien?“

Schmidt: „Toooor in Frankfurt. 4:1 für die Eintracht. Bernd Schneider macht den Treffer. Günther, und was heißt das? Das heißt, dass Frankfurt jetzt eine Tordifferenz von minus elf hat – wie der 1. FC Nürnberg. Aber die Eintracht hat mehr Tore erzielt. Nach meiner Rechnung – und ich bin kein großer Mathematiker – ist der 1. FC Nürnberg damit wieder in größte Abstiegsgefahr geraten.“

Koch: „Du hast alles gesagt. Im Moment, um 17.11 Uhr, ist der Club nach `79, nach `84, nach `94 auch `99 fast abgestiegen. Alles hängt jetzt von Bochum gegen Hansa Rostock ab. Frankfurt ist besser. Der Club taumelt, der Club hängt am Abgrund.“ Absteiger? Trotzdem Hansa Rostock.

17. 12 Uhr Manfred Breuckmann (Westdeutscher Rundfunk): „Und Toor, Tor für Rostock. Majak, der eingewechselte Majak macht ein Kopfballtor. Hansa Rostock führt um 17.12 Uhr mit 3:2 und alles kann gut werden.“ Absteiger? 1. FC Nürnberg.

17.12 Uhr Günter Koch: „Tor in Nürnberg. Tor, Tor, Tor in Nürnberg. Ich pack das nicht, ich halt das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr sehen. Aber sie haben ein Tor gemacht. Ich weiß nicht wie, Kopfball von Nikl. Ich halt das nicht mehr aus. Nein, es tut mir Leid. 1:2. Es ist nicht zu fassen.“ Absteiger? Eintracht Frankfurt. 

Im Waldstadion feiern sie zu früh, der verletzte Spieler Thomas Epp rennt zwischen dem Bildschirm von „Premiere“, das die Partie Nürnberg – Freiburg zeigt, und dem Spielfeldrand hin und her und brüllt die Kollegen an: „Das reicht noch nicht.“ Kollege Jan-Aage Fjörtoft hört am besten hin.

Zurück zur Konferenz.

17. 16 Uhr Dirk Schmidt: Die Eintracht weiß: Ein Tor könnte wieder Nürnberg in den Abgrund stoßen. Sie kommen jetzt wieder. Dann ist es Fjörtoft, der ist im Strafraum. Und dann Tooor, Tor für die Eintracht, 5:1. Herrje, welche Leistung. Und damit ist der 1. FC Nürnberg wieder in der zweiten Liga.

Er verschweigt den legendären Übersteiger, mit dem Fjörtoft FCK-Keeper Andreas Reinke überlistet. Ein Tor, das man in der Bundesliga nur selten sieht, im Leben des Jan-Age Fjörtoft ist es indes kein Novum. „Ich habe den Übersteiger schon als Kind gemacht“, erzählt Fjörtoft noch Jahrzehnte später stolz. Es handelt sich dabei um einen riskanten Täuschungsversuch des Torwarts, weil der Ball nicht mit dem Fuß geschossen wird, mit dem der Spieler ihn führt. Den Wechsel nimmt man beispielsweise vor, wie Fjörtoft ausführte, „um den Winkel zu verbessern“.

Schließlich sei es gar nicht so einfach wie manche denken, wenn man als Stürmer alleine auf den Torwart zulaufe. Schon in einem Länderspiel war ihm 1993 gegen Polen ein Tor auf diese Weise geglückt, es brachte Norwegen die WM-Teilnahme. – und die Kopie 1999 Frankfurt den Klassenerhalt.

Dafür muss ein anderer Verein in den sauren Apfel beißen und es kommt zu einem höchst seltenen Moment: dass ein Publikum Mitleid mit einem Reporter hat. Hören Sie selbst;

17. 21 Uhr Günter Koch: Hallo, hier ist Nürnberg. Wir melden uns vom Abgrund. So wie Bayern wegen des linken Torpfostens in Barcelona verloren hat, steigt der Club ab – wenn er denn absteigt – wegen des linken Pfostens in der Nordkurve. Nikl drosch den Ball an den Pfosten, der Ball klatscht vor die Füße von Frank Baumann, und der bringt den Ball aus sechs Metern nicht im Tor unter. Der Club, der schon abgestiegen war zwischen 17.08 und 17.10 Uhr, ist im Moment abgestiegen – denn das Spiel ist aus. Ade, liebe Freunde. Es ist nicht zu fassen, was der Club seinem treuen Publikum zumutet. Liebe Clubberer, es tut mir Leid: Das musste nicht sein.“

Manfred Breuckmann (WDR): Und Günther, du tust mir auch leid.“

So endet das Abstiegsdrama 1999 mit der größtmöglichen Überraschung. Nie zuvor ist ein Tabellenzwölfter am vorletzten Spieltag noch abgestiegen. In Nürnberg fließen Tränen, und diejenigen Fans, die noch eine Stimme haben, rufen: „Ihr seid so blöd!“ Frank Baumann spricht wegen des Fehlschusses vom „schwärzesten Moment in meiner Karriere.“ Da müsse man sich eben das Schienbein brechen und zur Not fünf Wochen für seinen Club im Krankenhaus liegen, aber der Ball müsse doch rein, grollt Co-Trainer Ignaz Good. Cheftrainer Friedel Rausch spricht fassungslos von „einer tausendprozentigen Chance“.

Vereinzelt werden Vorwürfe Richtung Kaiserslautern laut. Freiburgs Torwart Richard Golz: „Diesmal sollten die Nürnberger nicht auf uns sauer sein, sondern auf Kaiserslautern. Ich finde das Resultat von Frankfurt eine Unverschämtheit.“ FCK-Trainer Otto Rehhagel geht es ähnlich: „Ich musste mich sehr beherrschen, um die Contenance zu bewahren, dem einen oder anderen Spieler die Wahrheit zu sagen.“

Die Wahrheiten des Jörg Berger, 1991 mit Schimpf und Schande am Main verjagt und nun der große Held, fruchten: „Nur wer an das Unmögliche glaubt, kann das Mögliche erreichen“, sagt der Trainer, der an diesem Tag sein Image als Retter zementiert. Es ist bereits die vierte geglückte Rettungsaktion in der Bundesliga. Ein Spruch von Fjörtoft hat den 2010 verstorbenen Berger überlebt: „Dieser Mann hätte auch die Titanic gerettet.“

  • Fun Fact 1: Noch Wochen später treffen schriftliche Anträge bei der Frankfurter Oberbürgermeisterin Jutta Roth ein, Berger ein Denkmal zu errichten. Dazu kommt es nicht. Stattdessen wird er im Dezember 1999 entlassen, weil die Eintracht abgeschlagen wieder im Abstiegskampf steht. 
  • Fun Fact 2: Alle in den Abstiegskampf verwickelten Klubs erwischte es in den nächsten Jahren auch, sogar mehrmals: Frankfurt (zuerst 2001), Freiburg (2002), Rostock (2005) und Stuttgart (2016).