Wie der Classico zum Hassico wurde
Wenn Borussia Dortmund auf Bayern München trifft, ist meistens der Teufel los. Aber kein Duell kommt an den Rekord aus der Saison 2000/01 heran
Inhaltsverzeichnis
Auch wenn mal ein anderer Klub Tabellenführer ist, zieht kein Bundesliga-Duell die Fans mehr in den Bann als Borussia Dortmund gegen Bayern München. Seit 2010 spielen sie exklusiv den Meister aus. Auch in den 15 Jahren davor hieß es elfmal nur: Bayern oder Dortmund? So wurde dieses Spiel zum deutschen Classico. Das Duell stand nicht nur für großen Sport, die Rivalität zeigte auch zuweilen ihr hässliches Gesicht. Manchmal wurde aus dem Classico ein „Hassico“ – wie vor 22 Jahren, als ein Rekord aufgestellt wurde, der noch immer besteht. Schauen wir zurück die legendäre Saison 2000/01.
In der Woche vor Ostern trafen sich die Titelaspiranten in Dortmund. Die Bayern unter dem ehemaligen BVB-Trainer Ottmar Hitzfeld hatten 1999 und 2000 die Meisterschaft gewonnen und strebten den Hattrick an. Sie kamen gerade mit einem 1:0 in der Champions League aus Manchester zurück, als Stefan Effenberg David Beckham den Handschlag verweigert hatte.
In jenen Tagen spielten sie eher zweckmäßigem Fußball und waren keineswegs so souverän wie heute. Nach 27 Spieltagen hatten sie schon achtmal verloren. Weshalb die Meisterschaft 2000/2001 richtig spannend war.
Borussia Dortmund, Deutscher Meister 1995 und 1996 und Champions League-Sieger 1997, war noch nicht die unumstrittene zweite Kraft. Er hatte sich nach einer Krisensaison und einem Fast-Abstieg gerade wieder erholt und lag unter Jungtrainer Matthias Sammer, damals 33, nur einen Punkt hinter den Münchnern auf Platz 2, die sich an diesem 7. April 2001 keine Niederlage leisten konnte.
Das Westfalenstadion war mit damals noch 68.600 Plätzen ausverkauft. Bezahlsender Premiere (heute Sky) übertrug die Partie, die um 20 Uhr angepfiffen wurde, live. Wer auf beste Samstagabendunterhaltung gehofft hatte, wurde freilich enttäuscht. Im Nachhinein war das Programm nicht ganz jugendfrei.
Die sich über die Jahre aufgeschaukelte Rivalität (Andy Möller gegen Mario Basler und Lothar Matthäus, Oliver Kahn gegen Jens Lehmann, Matthias Sammer gegen Ottmar Hitzfeld) entlud sich an diesem schwarzen Samstag in ungekannter Intensität. Wobei sich die Beobachter hinterher nicht einig waren, wer oder was schlimmer war: die Unfairness der Spieler oder die Leistung des Schiedsrichters?
Hartmut Strampe aus Handorf in Niedersachsen stellte in 93:08 Minuten Spielzeit zwei Rekorde auf. Erstens: Er zückte 14 Karten (für 13 Spieler). Zweitens: elf davon gegen eine Mannschaft – die Bayern. Da war das eigentliche Ergebnis (1:1) nach Toren von Roque Santa Cruz (6.) und Fredi Bobic (52.) fast schon Nebensache. Das Spiel geriet spätestens nach 35 Minuten aus den Fugen, als Strampe Bayerns Verteidiger Bixente Lizarazu vom Platz stellte.
Der hatte schon Gelb, weil er nach sieben Minuten mit der Hand auf den Ball gefallen war – offenkundig ohne jede Absicht. Nach seiner Notbremse musste er dann vom Platz. Aus Sicht des auf der Bank vor Wut beinahe explodierenden Bayern-Managers Uli Hoeneß war das die erste „von über 50“ Fehlentscheidungen Strampes, dem der Kicker damals die Note 5 gab. Wir lesen nach: „…lag bei den persönlichen Strafen oft richtig, sonst allerdings mit eklatanten Fehlentscheidungen.“
Mit zehn Mann retteten die Bayern ihren Vorsprung in die Pause. Den durften sie dank zweier Fehlentscheidungen des Gespanns in Schwarz, das eine Großchance und ein Tor des BVB wegen Abseits annullierte, noch sieben Minuten behalten.
Dann aber traf Fredi Bobic. Das war nun ein irreguläres Tor, wie das Fernsehen nachwies, weil Vorbereiter Evanilson zuvor Hand spielte.
Die Bayern tobten und das Stadion kochte, nun wollten die Fans den Meistersturz. Nach 55 Minuten war er zum Greifen nahe: Kapitän Stefan Effenberg ließ Evanilson auflaufen, setzte dabei noch den Ellenbogen ein. Strampe zückte wegen Tätlichkeit Rot, es war schon der siebte Platzverweis in Effes Karriere. Der Sünder gab sich nicht sehr reuig: „Ich rechne mit einem Freispruch.“
Neun Bayern rechneten derweil damit, dass sie nicht mehr gewinnen konnten und igelten sich ein. Igel haben Stachel, und wenn sie pieksen, tut es weh. Immer wieder lagen Borussen auf dem Boden, manche freilich machten eine Kunst daraus. Obwohl es nicht regnete, sah man auch manch tieffliegende Schwalbe im Westfalenstadion. Uli Hoeneß sah sie auch und eine fiel ihm besonders auf: „Der Herr Addo zum Beispiel gehört in den Zirkus“, attestierte er BVB-Stürmer Otto Addo schauspielerische Fähigkeiten. Der arme Herr Strampe versuchte sich mit den Instrumenten des Schiedsrichters Respekt zu verschaffen: Er zückte Karten.
Vor allem gegen die Bayern. Die Liste der Verwarnten liest sich wie die Mannschaftsaufstellung: Kahn, Kuffour, Linke, Salihamidzic, Jeremies, Scholl, Elber, dazu der eingewechselte Sagnol. Lizarazu und Effenberg waren, wie erwähnt, vom Platz geflogen. Beinahe schämen mussten sich Abwehrchef Patrik Andersson und Roque Santa Cruz, dass sie gänzlich unbefleckt vom Platz kamen.
Längst war klar: Dieses Spiel würde an Intensität und Unfairness das Bayern-Gastspiel zwei Jahre zuvor übertreffen. Damals gab es auf jeder Seite einen Platzverweis (Stefan Reuter beim BVB und Sammy Kuffour bei Bayern), Bayern spielte 50 Minuten in Unterzahl und holte trotzdem einen 0:2-Rückstand auf.
Oliver Kahn flippte wegen des Endes seiner Mega-Serie ohne Gegentor (646 Minuten) aus, knabberte am Hals von Heiko Herrlich und sprang mit gestrecktem Bein im Kung-Fu-Style Chapuisat entgegen. Zuvor hatten ihn die BVB-Fans mit Bananen beworfen. Damals dachte man, schlimmer könne es zwischen den beiden Teams nicht kommen – ein Irrtum, wie sich vor Ostern 2001 herausstellte, als ein Bundesliga-Rekord aufgestellt wurde. Dazu machten die Partie in der Endphase die Verwarnungen für die Borussen Addo und Sunday Oliseh und der Platzverweis für Evanilson (grobes Foulspiel an Joker Sergio) in letzter Minute.
Herr Strampe und die Wilde 13 – das wäre der passende Titel für den Spielfilm vom 7. April 2001 im deutschen Fernsehen.
Das Nachspiel und der mediale Widerhall waren entsprechend heftig. Uli Hoeneß drang mit hochrotem Kopf in die Schiedsrichterkabine ein. Schließlich hatten die Bayern vor dem nächsten Gipfel gegen Schalke vier gesperrte Spieler. (Für Thomas Linke und Jens Jeremies war es die fünfte Gelbe). Strampes Assistent Bernd Hauer plauderte aus, Hoeneß habe erst wieder gehen wollen, wenn der Bericht unterschrieben sei. Was er darin lesen wollte, wurde nicht publik, aber er riet Strampes Gespann sie bräuchten Effenbergs Rote Karte „gar nicht erst aufzuschreiben, weil er sowieso nächste Woche wieder spielen würde.“
Dem war nicht so, schon am Montag fällte das Sportgericht die Urteile: Effenberg bekam zwei Spiele Sperre, Evanilson drei. Hoeneß, der öffentlich anregte „ob man Herrn Strampe mal eine Zeit lang aus dem Verkehr zieht“, kam nochmal davon, „weil nicht zwingend eine Diffamierung oder Beleidigung des Schiedsrichters“ darin gesehen wurde, wie der Kontrollausschussvorsitzende Horst Hilpert feststellte.
Michael Zorc, damals BVB-Manager, hatte auch was anzuprangern: „Die Bayern haben häufiger die Beine Rosickys als den Ball getroffen. Dass sie Addo diffamieren, ist pure Arroganz.“
Otto Addo klagte: „Die Bayern haben gefoult wie wild.“
BVB-Torwart Jens Lehmann wurde deutlich: „Das war heute dumm gegen doof.“
Trainer Ottmar Hitzfeld hielt Strampes Leitung für kleinlich: „Bei jedem kleinen Foul gab es Gelb.“
Volker Roth, Schiri-Boss, erkannte: „Das was Hoeneß macht, ist die bekannte Methode, von den Unzulänglichkeiten der eigenen Spieler abzulenken. Für Hartmut Strampe war es ein sehr schweres Spiel, denn es wurde kein Fußball gespielt.“
Es folgte ein Rauschen im Blätterwald, das einige Tage andauerte. Von „Holzaktion statt Fußball“ (Westfälische Rundschau) bis „Der Klassiker als Symbol des Verfalls“ (Kieler Nachrichten). Langsam flaute die Erregung ab. Uli Hoeneß rief am Montag bei Addo an und verkündete hernach: „Es ist alles wieder in Ordnung. Man darf doch nicht wochenlang alles auf die Goldwaage legen, was gesagt wurde.“
Franz Beckenbauer, damals Bayern-Präsident, regte einen Runden Tisch von Ligavertretern und Schiedsrichtern an.
Das Schlusswort gebührt Strampe: „Spaß gemacht hat’s nicht!“
- Fun fact 1: Strampe blieb noch zwei Jahre Bundesligaschiedsrichter, ein Bayern-Spiel pfiff er nie mehr.
- Fun fact 2: Beim nächsten Duell fünf Monate später (0:2) gab es nur drei Verwarnungen.