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Als Stan Libuda den Ricken machte

Schon 1966 schrieb Borussia Dortmund auf der Insel deutsche Europapokal-Geschichte. Der Finalsieg gegen den FC Liverpool bleibt unvergessen

Der BVB 1966: Die späteren Helden schreiten zur Tat. Foto: Imago / Horstmüller
Der BVB 1966: Die späteren Helden schreiten zur Tat. Foto: Imago / Horstmüller

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Borussia Dortmund steht im Finale der Champions League und zum sechsten Male in einem Europapokalendspiel. Immer ging sie als Außenseiter in die Partie, aber dass das nichts heißen muss, bewies sie gleich bei der Premiere. Eine Zeitreise in den Mai 1966, als zum ersten Mal ein Europapokal nach Deutschland kam.

Die Saison 1965/66 zählt zu den besten der Dortmunder Vereinsgeschichte. Bis kurz vor Ablauf der dritten Bundesligaspielzeit träumte der BVB von der Meisterschaft, während er gleichzeitig auch im Europapokal der Pokalsieger für Furore sorgte. Letztlich konzentrierte er sich auf den internationalen Wettbewerb, in dem er gegen alle Erwartung bis ins Finale vorstieß.

Schon der Weg nach Glasgow war aller Ehren wert, von den acht Partien verlor Borussia nur eine.

  • In der ersten Runde gegen Floriana La Valetta aus Malta hatte Borussia noch leichtes Spiel (5:1 und 8:0), im Rückspiel stellte Lothar Emmerich mit sechs Toren einen noch immer gültigen Europapokal-Rekord für einen deutschen Spieler auf.
  • Im Achtelfinale von Sofia setzte es gegen Armeeklub ZSKA ein 2:4 und einen Platzverweis gegen Hoppy Kurrat. Doch der 3:0-Vorsprung aus dem Hinspiel reichte.
  • Im Viertelfinale riss die stolze Serie von Atletico Madrid, das 17 Heimspiele in Folge gewonnen hatte, der BVB holte ein 1:1 im Stadion Vicente Calderon.
  • Im Halbfinale bei West Ham United glückte dem Bundesliga-Tabellenführer 1966 eine Premiere: Das 2:1 im Upton Park bedeutete den ersten deutschen Sieg auf der britischen Insel. Weder die Nationalmannschaft noch ein Verein hatte das zuvor geschafft, was zwei späte Treffer von Emmerich (86., 87.) möglich machten.

Im Finale wartete eine weitere englische Mannschaft: der FC Liverpool, der fünf Tage zuvor Meister geworden war und entsprechend selbstbewusst war.

„Wir sind unschlagbar. Wir holen den Cup!“, tönte Team-Manager Bill Shankley, der sein Team zum „besten Team der Welt“ erklärte und die Reserve zum zweitbesten. Über den Gegner lästerte er nur: „Wer ist Borussia Dortmund? Das Finale ist für mich schon abgeschlossen.“

20.000 Fans teilten den Optimismus und reisten nach Glasgow, wo Liverpool im Halbfinale den FC Celtic eliminiert hatte. Es schien ein gutes Omen zu sein. In der Nacht vor dem Spiel schlichen sich Reds-Fans ins Stadion und strichen die Torpfosten rot an.

Der BVB wurde von 4000 Anhängern und den besten Wünschen der Deutschen begleitet. Auch Borussia  glaubte an die Magie guter Vorzeichen und bezog ein Hotel 20 Kilometer südlich von Glasgow an der Irischen See. Wer im Marine-Hotel von Troon wohnte, hatte angeblich noch kein Spiel in Glasgow verloren.

BVB-Trainer Willi Multhaup, den alle „Fischken“ nannten, weil er der Sohn eines Fischhändlers war, machte seinem Team auf ganz spezielle Weise Mut. „Von zehn Spielen gegen uns wird Liverpool neun gewinnen. Einmal gewinnen wir – und das ist heute, merkt euch das “, zitierte Alfred „Aki“ Schmidt den Coach gerne.

Drei Tage verbrachten die kommenden Helden in Troon mit Training, Kartenspielen, Golf und Strandspaziergängen. Was man eben so machte in den Jahrzehnten vor dem Internet und den Smartphones. Nicht mal Fernseher hatten sie auf den Zimmern. Dann endlich, nach dem auf 14.30 Uhr verlegten Mittagessen (Steak), wurde es allmählich ernst.

Final-Teilnahmen von Borussia Dortmund im Europapokal
Dieses Jahr steht Dortmund bereits zum vierten Mal in der Vereinshistorie in einem Champions-League-Endspiel. Zwei aus drei lautet dabei die Ausbeute der Dortmunder. Der letzte Sieg jedoch ist mittlerweile 27 Jahre her.

42.000 Zuschauer füllten den Hampden-Park, das damals größte Stadion Europas, an jenem Donnerstag nicht mal zu einem Drittel. Vielleicht auch, weil es regnete. Die Dortmunder Spielerfrauen waren immerhin vor Ort, der BVB hatte sie einfliegen lassen. „Zur Beruhigung des notorisch eifersüchtigen Libuda“, wie die Vereinschronik „Ein Jahrhundert Borussia Dortmund“ süffisant vermerkt. Libuda hätte wegen eines viel zu langen Telefonats mit seiner Frau beinahe schon den Abflug verpasst.

Vor dem Anpfiff rief „Aki“ Schmidt den zum Leichtsinn neigenden Rudi Assauer noch mal zur Ordnung: „Assi, wenn Du auch nur einen Fehlpass spielst, trete ich Dir in den Arsch.“ Fußballer-Jargon.

Es entwickelte sich ein zähes Spiel auf einem matschigen Untergrund. Kurz nach Anpfiff mussten die BVB-Anhänger den Atem anhalten, als Theo Redder für seinen nervös beginnenden Torwart Hans Tikowski auf der Linie retten musste.

Ansonsten wirkte die Abwehr sattelfest. Die Westfälische Rundschau lobte Kapitän und Ausputzer Wolfgang Paul blumig: „Er stand wie eine Eiche in der Hintermannschaft.“

Aber es mangelte an Entlastung. Die Shooting-Stars der Saison, Mittelstürmer Siggi Held und Linksaußen Lothar Emmrich, die im Juli Vize-Weltmeister wurden, kamen kaum zur Geltung. Auch Stan Libuda hatte auf rechts seine liebe Mühe und Not mit der harten englischen Gangart. Nach 32 Minuten wäre Redder fast ein Kopfball-Eigentor unterlaufen. Kurz darauf hatte Held die Dortmunder Führung auf dem Fuß, aber Keeper Lawrence parierte.

In der Halbzeit tauschte Borussia trotz widrigen Wetters die durchnässten langärmeligen gegen kurzärmelige Trikots. Es mag der Gesundheit gedient haben, doch es war auch ein Zeichen von Entschlossenheit, sich den rauen Umständen dieses Ermüdungskampfes zu stellen. Liverpool verstärkte zwar den Druck und war in puncto Ballbesitz und Laufleistung, hätte man es schon damals gemessen, gewiss überlegen. Aber das erste Tor schoss der BVB: Siggi Held verwertete eine Vorlage von Spezi Lothar Emmerich. Die „Schrecklichen Zwillinge“, wie sie in der englischen Presse genannt wurden, taten etwas für ihren Ruf. Held erinnerte sich 50 Jahre danach unaufgeregt: „Lothar flankt von links, und ich verwandle.“

Sieben Minuten hielt die Führung, dann fiel der irreguläre Ausgleich. Vor der Flanke auf den kommenden Weltmeister Hunt hatte der Ball schon die Seitenauslinie überschritten, der französische Schiedsrichter Schwinte ließ sich von den Protesten nicht beeindrucken. Hunderte Liverpool-Fans auch nicht, sie rannten auf den Platz. Es blieb ihre einzige Feier.

Das Spiel schleppte sich in die Verlängerung und es war auch beim kommenden Sieger nicht alles Gold, was glänzte. Das Sport Magazin schrieb damals über den BVB:

„Leider beschränkte man sich bei Dortmund allzu sehr auf das Wegschlagen des Balles. Man sah keinen vernünftigen Angriff, schlechtes Abspiel und einen ständig im Angriff liegenden Gegner.“

Bill Shankley, der schlechte Verlierer, attestierte Borussia sogar grimmig, sie könne in der englischen Liga nicht bestehen. Urteilt man so über Helden?

Denen war es egal, denn die Schwarz-Gelben nahmen den Pokal mit. Weil schon 31 Jahre vor Lars Ricken ein Borusse einen legendären Lupfer in einem Europapokalfinale zur Aufführung brachte. Es lief die 106. Minute, als Held nach einem langen Pass des überragenden Schmidt aufs Liverpooler Tor zueilte und sich ihm Keeper Lawrence entgegen warf.

Der Ball prallte zu Reinhard Libuda, den alle nur Stan nannten – weil er dribbeln konnte wie der legendäre Stanley Matthews. Das Tor war leer, doch der Weg weit. Nicht weit genug für Libuda, der „ohne einen gezielten Blick“ (FAZ) den Ball gefühlvoll über dreißig Meter ins linke obere Eck schlenzte. Der prallte an den Pfosten und von der Schulter des herbeieilenden Verteidigers Yeats ins Netz.

„Libudas Ball senkt sich ins Tor. Ins Tor, ins Tor. Es ist unglaublich“, rief ARD-Reporter Ernst Huberty in sein Mikrofon. Libuda schilderte das Tor seines Lebens auf seine Weise: „Ich sah, wie der Ball abprallte, und sah ihn kommen. Mit dem linken Auge bemerkte ich das leere Tor, da hab ich abgezogen. Ich dachte mir: ‚jetzt oder nie!‘ Als der Ball in der Luft war, spürte ich, der geht rein.“

Das war sein Glück, die Mitspieler verstanden nie, wieso der 1996 verstorbene Dribbelkünstler nicht noch ein paar Meter gelaufen ist. „Du, ich hätte Dich umgebracht, wenn der nicht reingegangen wäre“, vertraute der Fußball-Arbeiter Schmidt dem Fußball-Künstler Libuda an. Aber es ging ja alles gut.

Multhaup lobte sich selbst: „Bin ich nicht der größte Prophet? Ich habe gewusst, wir werden gewinnen.“

Nach Abpfiff um 21. 50 Uhr spielten sich turbulente Szenen ab. Fans beider Lager wollten den Spielern an die Wäsche. Die Dortmunder wollten Souvenirs, die Liverpooler Aggressionen abbauen. Die Westfälische Rundschau registrierte Belagerungsszenen vor den Kabinen: „Schlachtenbummler und Spieler bedrohten und schlugen die Borussen. Wosab wurde regelrecht k.o. geschlagen, Aki Schmidt erhielt einen Tritt gegen das Schienbein und Torhüter Tilkowski einen Boxhieb in die Magengrube.“ Schmidt hatte schon im Spiel einen Kinnhaken bekommen, so dass „ich am Abend nur Sekt einträufeln konnte“.

Spätestens jetzt wussten sie, dass sie etwas Großes, Sensationelles geschafft hatten. Auch wenn die Nacht unspektakulär ausklang. Im Hotel wartete kein Bankett auf die Sieger, der Vorstand hatte nicht damit gerechnet.  

Der Zeugwart hatte immerhin eine Kiste Sekt aufgetrieben, die die Helden in einsamer Nacht am Strand von Troon leerten. Zu essen gab es belegte Brötchen, wie sich Torwart Hans Tilkowski erinnerte.

Spät in der Nacht fiel dann sogar der Pokal in die Irische See, wie das eben so ist, wenn glückliche junge Männer herumalbern. Sie fanden ihn wieder, zum Glück. Denn in der Heimat waren am nächsten Tag über 300.000 Menschen gekommen, um den Pokal zu sehen und die Mannschaft, die ihn gewann.

Am Borsigplatz und auf dem Weg dorthin waren lauter glückliche Menschen, schon am Flugplatz in Köln, wo ein roter Teppich ausgerollt war, warteten Hunderte. Dortmunds Kinder hatten schulfrei, so einen Tag durfte niemand verpassen. Zur Siegprämie – die Angaben variieren zwischen 6000 und 10.000 D-Mark – gab es eine weiße Porzellanvase und das Silberne Lorbeerblatt aus den Händen von Bundeskanzler Kurt Adenauer.

Nur die Meisterschaft, die gab es nicht mehr. Die Europacup-Helden, die je nach Temperament noch tagelang weiter feierten, verloren die restlichen drei Saisonspiele. Umso wertvoller war der Pokal, den sie als erste deutsche Mannschaft nach Hause brachten.

  • Fun Fact 1: Ein schottischer Journalist hielt den BVB für eine Mannschaft aus der DDR, weil im Vereinsnamen „russia“ vorkam. Man klärte ihn vor der Veröffentlichung seines Irrglaubens rechtzeitig auf und er entschuldigte sich beschämt.
  • Fun Fact 2: Weil Held, Emmerich, Libuda und Sturm noch bis weit in die Nacht vor dem Finale Karten droschen und dabei nicht leise waren, stürmte Multhaup in ihr Zimmer und drohte: „Wenn wir morgen verlieren, zahlt jeder 10.000 Mark in die Mannschaftskasse.“ Der wahre Grund für den Sieg?
  • Fun Fact 3: Als Oberbürgermeister Keuning beim Empfang der Sieger eine Rede halten wollte, ließ ihn die Menge am Borsigplatz nicht zu Wort kommen. Da stimmte er das Vereinslied an und traf damit den richtigen Ton – alle sangen mit.

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