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Als die Kobra zubiss und Dortmund rettete

Borussia Dortmund im Abstiegskampf, Relegation gegen Fortuna Köln: Alle BVB-Erfolge, die später passierten, wäre ohne Jürgen Wegmanns Tor kaum möglich gewesen

Foto: Imago / Sven Simon

Inhaltsverzeichnis

Relegation – diese organisierte Form des Nervenkitzels zum Abschluss einer Saison zieht die Fans immer wieder in den Band. Die einen tanzen am Abgrund, die anderen wollen mit Ballast im Rucksack über sich hinaus wachsen und den Gipfel stürmen. Historisch ist der Bundesligist im Vorteil, aber knapp ist es fast immer. So wie am Pfingstmontag 1986, als ein „Judas“ zum Held wurde.

Dass Borussia Dortmund auch mal gegen den Abstieg spielte, ist heute kaum zu glauben. 1972 hatte es sie sogar schon mal erwischt, es blieb der einzige Betriebsunfall. Aber im Frühjahr 1986 standen sie wieder dicht am Abgrund. Sieben Sekunden sollen es laut der Vereinschronik „Ein Jahrhundert Borussia Dortmund“ gewesen sein bis zum Abpfiff von Aron Schmidhuber.

Dann nämlich fiel noch ein Tor, das Vereinsgeschichte schrieb und all die Titel und Sternstunden der folgenden Jahrzehnte erst möglich machte. Es hat entscheidenden Anteil daran, dass Borussia Dortmund seit nunmehr 48 Jahren ununterbrochen in der Bundesliga spielt. Wie der Weg des Champion League-Gewinners 1997 und vielleicht 2024 nach einem zweiten Abstieg verlaufen wäre? Besser nicht drüber nachdenken. Sportlich wie wirtschaftlich steckte Borussia in den roten Zahlen, als die Saison 1985/86 endete. Zwei Tore fehlten zum rettenden 15. Platz und satte vier Millionen D-Mark zur Schuldenfreiheit. Dann kam die erst 1982 eingeführte Relegation, die zum Glücksfall für sie werden sollte.

Wonach es zunächst nicht aussah, denn das erste Spiel beim Zweitliga-Dritten Fortuna Köln verlor der BVB mit 0:2. Die kleine Fortuna war ins große Müngersdorfer Stadion, Heimat des 1. FC, ausgewichen und begrüßte 47.000 Zuschauer. Der Nervenkitzel füllte die Kassen mehr als ein Spitzenspiel in Liga zwei. Für das Rückspiel, das kurzfristig von Samstag auf den konkurrenzlosen Montag verlegt wurde, interessierte sich plötzlich auch das Fernsehen.

Privatsender SAT1, den damals nur wenige Haushalte empfingen (und wenn, dann mit Zimmerantenne, deren Position man dauert wechseln musste), übertrug live. Dennoch wollten sich 54.000 Menschen das Spiel aus nächster Nähe ansehen: Erstmals überhaupt meldete das Westfalenstadion, seit 1974 die Heimat der Borussen, ein ausverkauftes Haus. Nicht gegen Schalke, nicht gegen Bayern – nein, gegen Fortuna Köln war die Hütte erstmals voll. Weil es um Leben und Tod ging, rein sportlich.

Dieses Szenario füllte die BVB-Kassen mit rund 1, 1 Millionen D-Mark.

Präsident Reinhard Rauball sagte: „Wir haben unseren Schuldenberg, der einst über vier Millionen DM betrug, inzwischen stark abbauen können. Der Abstiegskampf macht es möglich.“

Das zu den wichtigsten fünf der Vereinsgeschichte zählende Spiel wurde um 19 Uhr angepfiffen. Um 19. 14 Uhr war die 2. Liga noch ein Stückchen näher gerückt, denn die unerschrockenen Kölner gingen durch Bernd Grabosch in Führung. Gegen seinen 16-Meter-Schuss war auch Eike Immel machtlos. Eigentlich sollte der Torwart schon bei der Nationalmannschaft sein, die ohne ihn zur WM nach Mexiko geflogen ist. Da ahnte er noch nicht, dass sich sein Abflug um elf Tage verzögern sollte. Zur Pause ahnte das auch sonst niemand.

In der Addition lag Borussia 0:3 zurück, und die drückende Hitze sorgte nicht gerade für ideale Bedingungen, eine Aufholjagd zu starten. Trotzdem sprachen sie in der Kabine von der spektakulärsten Aufholjagd, die es im deutschen Fußball gegeben hatte. „Denkt an Uerdingen gegen Dresden“, riefen sie sich zu. Acht Wochen zuvor hatten die Krefelder  im Europacup nach 1:3-Pausenrückstand gegen Dynamo noch 7:3 gewonnen. Auch dank der richtigen Joker.

BVB-Trainer Erich Ribbeck wechselte den 22jährigen Soldaten Ingo Anderbrügge für Kapitän Lothar Huber ein. Anderbrügge hatte Trainingsrückstand, in der Grundausbildung gab es auch für Bundesliga-Profis keine Privilegien. Dennoch machte sich sein Einsatz bezahlt. In der 54. Minute drang er in den Strafraum ein, der Kölner Hans-Jürgen Gede rempelte ihn. Elfmeter! Einer, den nicht jeder Schiedsrichter gegeben hätte. Die Fortunen protestierten vergeblich, Michael Zorc vollstreckte – 1:1. Noch 36 Minuten Zeit für zwei Tore.

Auf der Fan-Website „schwatzgelb“ hat ein Augenzeuge die Ereignisse jenes Tages im Westfalen-Stadion dokumentiert. Er schrieb:

„Es gab wieder Hoffnung, aber es mußten noch zwei Tore fallen. Dortmund setzte an zum bedingungslosen Sturmlauf. Endlich, nach einer Viertelstunde des erfolglosen Anrennens, folgte der nächste Schritt auf dem Weg zur Befreiung. Unser Denker und Lenker des angeschlagenen Schlachtschiffs Borussia, Marcel Raducanu – der nebenbei auch wohl größte Magier der Ballbehandlung in der Geschichte des BVB machte sein einziges Kopfballtor seiner Karriere zum 2:1 !!  Aber um die Schönheit dieses Tores zu bewundern, war jetzt nicht die Zeit. Es fehlte ja immer noch mindestens ein Tor, um wenigstens das Entscheidungsspiel zu erzwingen. Und noch waren ja 22 Minuten zu spielen!“

Aber die Minuten verrannen ohne weitere besondere Vorkommnisse. Als die 90. und somit allerletzte anbrach, bekamen die Fortunen eine Ecke. Der Sat1-Reporter versicherte den Zuschauern bereits, die kleinen Kölner seien doch auch eine Bereicherung für die Bundesliga, da warfen sie sie selbst wieder weg. Gäste-Trainer Hannes Linßen hat sich diese Szenen noch oft auf Video angesehen, so als würde es beim 100. Mal vielleicht doch noch anders kommen.

„Wir haben eine Ecke und die schießen das Tor“, sagte er noch oft fassungslos. Denn der abgewehrte Ball kam zu Soldat Anderbrügge, der fast von der Torauslinie mit links abzog. Jacek Jarecki, der bis dahin so überragende Fortuna-Torwart, ließ den harten Ball abtropfen. Dahin, wohin ein Torwart keinen Ball abtropfen lassen sollte, weil ein klassischer Torjäger dort immer stehen wird. Einer wie Jürgen Wegmann.

Mit Pfiffen hatten sie ihn trotz seiner 20 Saison-Tore begrüßt, denn ein paar Tage zuvor war sein Wechsel bekannt geworden. Zu Schalke 04 – ausgerechnet.

„Sie nannten mich ‚Judas’ und pfiffen mich aus, als ich an diesem schwülen Nachmittag das Feld betrat“, erzählte Wegmann dem Magazin „11 Freunde“, das 25 Jahre später noch mal alles genau wissen wollte. Nicht ganz unverständlich angesichts seiner schier naiven Aussagen. Im Kicker sagte er noch während die Relegation lief: „Ich verspreche mir von meinem Wechsel viel. Ich möchte Nationalspieler werden, das kann ich mit einem Olaf Thon neben mir mit Sicherheit besser als in Dortmund.“ Auch sei es ihm wichtig, „so nah wie möglich am Parkstadion zu wohnen.“

Dorthin kam er als Retter des Erzrivalen, was auch nicht alle gut fanden. Am Pfingstmontag 1986 jedenfalls drückte Wegmann den Ball aus zwei Metern freistehend mit links ins leere Tor. Es war das leichteste Tor der Welt und sorgte für ein mittelschweres Erdbeben auf den Rängen. Hören wir Wegmann zu: „Die Beine waren schwer, der Kreislauf spielte verrückt, und auch das Publikum hatte die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Doch ich spürte tief in mir, dass da noch was gehen musste.“ 3:1 – die vorläufige Rettung.

Schmidhuber pfiff nur noch mal an um abzupfeifen. Der Pfiff ging im „Torjubel des Jahrhunderts“ (Wegmann) unter. Der Biss der Kobra, wie Wegmann später nach einem Spruch zu Bayern-Zeiten („Ich bin giftiger als die giftigste Schlange“)  genannt wurde, sorgte für eine Explosion der Gefühle. 

Der Augenzeuge schilderte es auf Schwatzgelb so:

Hinter dem Tor lagen wildfremde Menschen aufeinander, andere herzten sich ohne sich zu genieren und es flossen Tränen der Freude, die den Dortmund-Ems-Kanal in Richtung Nordsee an die Grenzen des Erträglichen brachten!“

Hunderte Fans stürmten den Platz - und „da haben wir um unsere Gesundheit gefürchtet“ (Wegmann). Verteidiger Dirk Hupe wurde in die Luft geworfen und bekam Angst. Letztlich kamen alle mit heiler Haut davon. Ganz im Gegensatz zu den von Fortuna verlassenen Fortunen. Gleich drei Spieler erlitten an diesem Tag Knieverletzungen, inklusive Sperren beklagten sie vor dem dritten Spiel, was vor Einführung des Elfmeterschießens nötig wurde, zwölf Ausfälle. Fußball konnten sie nicht mehr spielen. Nicht sofort.

Der DFB hatte Mitleid – selten genug – und sagte die dritte Partie auf Antrag der Kölner ab. Borussia Dortmund kam dennoch demonstrativ ins leere Düsseldorfer Rheinstadion, um zu zeigen: Also, wir sind bereit! Die letzte Entscheidung der Saison verkam zu einer Farce. Als die Fortunen sieben weitere Tage später wieder eine Not-Elf hatten, standen sie immer noch unter dem Schock, den der Kobra-Biss verursacht hatte. Ihr letztes Aufgebot unterlag am 30. Mai in einem an der Grenze zur Wettbewerbsverzerrung verlaufenden Spiel 0:8. „Für jeden Tag Verzögerung ein Tor“, höhnte Zorc. Wegmann traf in dieser Partie nur einmal, per Elfmeter zum 6:0. Doch sein Abstauber im zweiten Spiel machte ihn zur Legende. Borussia verschaffte ihm nach seiner Karriere, als er Probleme hatte beruflich Fuß zu fassen, einen Job im Verein. Aus gutem Grund.

  • Fun Fact 1: Bei Schalke blieb Wegmann nur ein Jahr. Als sie ihn zu Bayern ziehen ließen, stiegen sie 1988 prompt ab.
  • Fun Fact 2: Eigentlich wollten die Fortunen nach dem zweiten Spiel  in den Urlaub und die Mannschaftskasse auf Ibiza verjubeln. 15.000 DM gingen wegen dem Biss der Kobra flöten, sie hatten keine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen.

 

 

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