Als Deutschland die Wende zweimal schaffte

Franz Beckenbauer wurde 1990 Weltmeister. Dabei hätte die Nationalmannschaft fast die WM verpasst - und fuhr nur dank Thomas Häßler hin

|8. November 2023|
Als Deutschland die Wende zweimal schaffte
Als Deutschland die Wende zweimal schaffte

Foto: Imago / Sven Simon

Inhaltsverzeichnis

Wer heute über 50 ist, der hat wohl nie aufregendere Herbsttage erlebt als 1989. Jedenfalls als Deutscher und erst recht als einer mit einem Fußballherzen. In den Tagen, als die Mauer fiel und sich die deutsche Einheit nach 40 Jahren der Trennung in Ost und West, in Kapitalismus und Sozialismus, in Freiheit und Unfreiheit anbahnte, stand auch der deutsche Fußball am Scheideweg. Ein Spiel entschied darüber, wie die Nachwelt einmal über unseren Größten, Franz Beckenbauer, sprechen würde. Und über die Stimmung im Sommer 1990, dem vielleicht glücklichsten einer ganzen Generation. Hinein in den November 1989 und die aufregendste Woche auch im Leben des Thomas Häßler.

Kaum jemand weiß es heute noch: Die deutsche Nationalmannschaft, die ein halbes Jahr später Weltmeister werden sollte, gewann 1989 nicht mal ihre Qualifikationsgruppe (mit vier Teilnehmern) und landete hinter Europameister Niederlande. Sie musste hoffen, als einer von zwei punktbesten Zweiten noch zur WM fahren zu können.

Als nachmittags bekannt wurde, dass die Rumänen die Dänen 3:1 geschlagen hatten, stand fest: Gegen Schlusslicht Wales half im letzten Gruppenspiel an jenem 15. November in Köln nur ein Sieg! Teamchef Franz Beckenbauer sprach vom „wichtigsten Spiel meiner Laufbahn“ und hatte für den Fall des Scheiterns seinen Rücktritt angekündigt.

Auch ohne diese Konstellation wäre es kein normales Spiel gewesen, es wurde vom Windhauch der Geschichte umweht. Die Jubelbilder aus den Nachrichtensendungen nach dem Mauerfall am Abend des 9. November, die Trabbis auf westdeutschen Straßen am ersten Wochenende danach, die Wiedersehensfreude von Jahrzehnte lang getrennten Menschen – all das ließ niemanden kalt. Auch unsere Fußballstars nicht. Wohl nie fiel es einer deutschen Nationalmannschaft schwerer, sich auf ein entscheidendes Spiel zu konzentrieren.

Franz Beckenbauer betonte noch oft, es sei in seiner sechsjährigen Amtszeit (1984 bis 1990) „die schwierigste Woche überhaupt“ gewesen, „denn die Mauer fiel und es war unmöglich, die Konzentration hoch zu halten“. Die 21 Nationalspieler, die in der Sportschule Hennef zusammengezogen wurden, waren mit ihren Gedanken nicht nur beim Fußball und hingen auch vor der Erfindung der Handys an ihren Telefonen auf den Hotelzimmern.

Rudi Völler fragte in die Journalistenrunde: „Das Spiel gegen Wales, was ist das schon gegen dieses Ereignis?“

Zwei Spieler des 1. FC Köln waren ganz besonders berührt von den Ereignissen, denn sie hatten ihre Kindheit im Schatten der Mauer in West-Berlin verbracht: Thomas Häßler, genannt „Icke“, und Pierre Littbarski, der „Litti“.

Häßler, im Berliner Wedding groß geworden, sah als Schüler aus den Fenstern seines Klassenzimmer die Mauer und gestand: „Ich habe die Geschehnisse im Fernsehen mit einer Gänsehaut verfolgt. Ich wäre jetzt gern in Berlin gewesen, um dies alles ganz persönlich mitzuerleben.“

Zum Glück war er in Köln an diesem Abend, als den deutschen Fans das Herz mehrfach in die Hose rutschte und das Land einen Helden brauchte. Beckenbauer hatte auch personelle Sorgen. Sein Kapitän Lothar Matthäus fehlte verletzt, war aber zur Unterstützung Teil des Kaders. Gleiches galt für den Münchner Vorstopper Jürgen Kohler, der den Stuttgarter Guido Buchwald, auch in Berlin geboren, ersetzte.

Bei den Walisern fehlte Superstar Ian Rush (FC Liverpool). Obwohl sie keine Chance mehr auf das Italien-Ticket hatten, stand nicht zu erwarten dass sie Geschenke verteilen würden. Schon im Hinspiel trotzten sie den Deutschen ein 0:0 ab, und im Rückspiel schossen sie sogar ein Tor: Nach elf Minuten unterlief Bayerns Rechtsverteidiger Stefan Reuter ein schwerer Fehler, den Allen zum 0:1 nutzte. 60.000 in Müngersdorf stockte der Atem, auch die Politprominenz um Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Arbeitsminister Norbert Blüm verzog das Gesicht.

Die Mienen hellten sich ein wenig auf, als Rudi Völler nach einer Ecke noch vor der Pause ausglich (25.), aber die Spannung konnte bei so einem Halbzeitstand natürlich nicht weichen.

Das 1:1 entsprach durchaus dem Spielverlauf; die Waliser wehrten sich nach Kräften, der frühere Bayern-Stürmer Mark Hughes zwang Bodo Illgner zu einer Glanzparade, und Dean Saunders traf den Außenpfosten. Libero Klaus Augenthaler blieb angeschlagen in der Umkleidekabine, ihn vertrat der Leverkusener Alois Reinhardt in seinem erst dritten Länderspiel.

Die zweite Hälfte lief drei Minuten, da kam der große Moment der Kölner Zauberzwerge Pierre Littbarski (1,68m) und Thomas Häßler (1,66m). Littbarski flankte von links, der Ball wurde von Verteidiger Melville verlängert und fiel Häßler quasi vor die Füße. Mit links schoss er ihn volley knapp neben den rechten Pfosten ein. Es war sein erster Treffer für Deutschland und sein wichtigster von elf, die ihm bis 2000 glücken sollten.

Es war ohne Übertreibung das Tor seines Lebens, in der aufregendsten Woche seines Lebens. Das ahnte er selbst: „So ein wichtiges Tor werde ich in meiner Laufbahn kaum noch schießen.“

Es vergingen aber noch bange Momente, bis es zu dem werden konnte was es ist.

Sein Spezi Littbarski hätte die Fußballnation erlösen können, doch er verschoss nach 77 Minuten einen Elfmeter. Torwart Neville Southall lenkte den Ball an den Pfosten. ZDF-Reporter Dieter Kürten kommentierte das damals so: „Drin isser – isser nich – er kommt wieder raus.“

Für die Waliser war es das Signal, noch mal alles zu geben und den Deutschen die WM-Reise zu vermasseln. Es wäre das erste Mal gewesen: Nie ist Deutschland in einer WM-Qualifikation gescheitert. Aber nie mussten sie so zittern wie 1989, und der Dank gebührt einem Mann namens Colin Pascoe vom FC Sunderland – der Joker der Waliser köpfte in der 88. Minute freistehend über das Tor von Bodo Illgner. „Unser Herz rutscht in die Hose, sag‘ ich Ihnen. So habe ich lange nicht mehr gezittert“, gestand Kürten.

„Die letzten zehn Minuten waren der Horror. Das war ein Hitchcock“, gab auch Rudi Völler zu.

Um 21.57 Uhr war es dann endlich geschafft, Abpfiff.

Die Deutschen sanken zu Boden und erstmals sah man ein Lächeln über Beckenbauers bis dahin versteinerte Miene huschen. Die jubelnden Zuschauer hatten nicht den Eindruck, den kommenden Weltmeister gesehen zu haben. Aber die glücklichen Siege sind doch die schönsten und in diesem Herbst war das Glück mit den Deutschen. Arbeitsminister Norbert Blüm witzelte: „Das war ganz schön aufregend. Aber Aufregung am Feierabend ist auch mal ganz schön.“

Die holländische Zeitung De Telegraaf schrieb: „Deutschland ist durch ein Nadelöhr gekrochen. Das Tor von Häßler bewahrt Beckenbauer vor dem Psychiater!“ Und vor dem Rücktritt. Der Kaiser war schon wieder Optimist: „Wenn wir uns in den Dingen verbessern, die ich angesprochen habe, und alle ihre Leistung bringen, dann können wir in Italien eine gute Rolle spielen.“

Wie recht er doch haben sollte. Acht Monate später sah man ihn in Rom im Mondschein spazieren – als Weltmeister.

  • Fun fact 1: Am selben Tag scheiterte die Auswahl der DDR mit einem 0:3 in Wien. Sie hätte sich sonst auch für Italien qualifiziert. Trainer Eduard Geyer schob die Pleite auf die Unruhe jener Tage, als Spielerberater aus dem Westen seine Spieler verrückt machten.
  • Fun fact 2: Thomas Häßler spielte im WM-Finale gegen Argentinien nur wegen seines Tores. Beckenbauer musste zwischen Olaf Thon, der im Halbfinale gegen England stark gespielt hatte, und ihm wählen. Wie er später zugab, entschied er aus Dankbarkeit pro „Icke“.