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Warum England NICHT Europameister werden darf
Der Kolumnist macht sich Sorgen: Ein Sieg von Kane & Co. im Finale gegen Spanien würde sein Weltbild ins Wanken geraten lassen
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Es gibt Sachverhalte, die sind unverrückbar. Der HSV kann nicht aufsteigen. Die andere Schlange im Supermarkt ist die schnellere. Sowas halt. Nur selten greifen die Götter ein und legen einen bewährten Algorithmus lahm. Wie im Februar, als in Osnabrück ein ICE pünktlich einfuhr. Oder im Mai, als sie aus Vizekusen Leverkusen machten.
Einmal verkrafte ich so ein Fußballwunder, aber jetzt geht mir alles zu schnell. Die Engländer dürfen nicht Europameister werden. Not on my watch.
Mein Weltbild gerät gerade ins Wanken. Ich bin aufgewachsen in der Gewissheit, dass Fußball ein einfaches Spiel mit 22 Männern ist, und am Ende gewinnt England nichts. Es lebte sich ganz wunderbar damit.
Okay, einmal haben sie den WM-Titel geholt: am 30. Juli 1966 im Wembleystadion. Vor fast 58 Jahren also. Seither wurde Deutschland aber dreimal Weltmeister und dreimal Europameister, die Engländer rissen 28mal nichts Pokalschranktaugliches.
Ich war an jenem 30. Juli übrigens sechs Wochen alt. Ich erinnere mich deshalb schemenhaft. Nur dass der Ball nicht drin war, das weiß ich noch genau.
Mein ganzes Leben verlief in geordneten Bahnen, ich ertrug alles Schlimme dieser Welt. Zum Beispiel den Elfmeter von Uli Hoeneß 1976, Niederlagen gegen die Österreicher 1978, die Argentinier 1986, die Holländer 1988. Das Gerumpel 2000. Ich lernte 2018 und 2021 und 2022, mich mit Blamagen abzufinden. All das hielt ich nur aus, weil ich wusste: Es gibt da draußen jemanden, der ist noch schlechter.
England.
Und bei dieser EM knüpfte das Mutterland des Fußballs anfangs nahtlos daran an. Doch jetzt plötzlich spielen die Engländer etwas, das tatsächlich ein wenig an Fußball erinnert. Sie stehen zum zweiten Mal hintereinander im EM-Finale, zum ersten Mal nicht auf heimischem Terrain. Statistisch gesehen besteht also höchste Gefahr, auch wenn der Spanier übermächtig scheint.
Wie soll ich weiterleben, wenn die Engländer den ersten Titel seit 1966 gewinnen?
Ich möchte damit nicht sagen, dass mir England unsympathisch ist, vor allem Kapitän Harry Kane, Jude Bellinghams Antimaterie, mag ich, aber ihm deshalb den Sieg zu wünschen? Das geht nun wirklich zu weit.
Als Kane vor einem Jahr zum FC Bayern wechselte, dachte ich: Er kommt nach Deutschland, um endlich einen Titel zu gewinnen. Dieser Satz bekommt jetzt plötzlich eine völlig andere Bedeutung.
Am Sonntag werde ich meine journalistische Grundhaltung für 90 oder 120 Minuten – ja, wenn‘s sein muss, bis zum Losentscheid nach dem letzten Elfmeter tief in der Nacht außer Kraft setzen. Spanien MUSS einfach die Suppe auslöffeln, die uns die Holländer im Halbfinale eingebrockt haben.
Denn sollte England einen großen Titel holen, wäre plötzlich nichts mehr unmöglich. Der HSV könnte aufsteigen. Kai Havertz richtige Tore schießen. Der BVB eine Fanpartnerschaft mit Leipzig gründen. Es gäbe keine Tabus mehr, die Weltordnung geriete aus den Fugen, und das darf nicht sein.
Sonntag werde ich deshalb die spanische Hymne singen! (Praktischerweise hat sie keinen Text.)
Viva España!
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