30 Jahre Phantom-Tor

1994 schießt Thomas Helmer ein Tor, das keines war und deshalb Bundesliga-Geschichte schrieb - und das Schiedsrichterwesen durchschüttelte

|24. April 2024|
30 Jahre Phantom-Tor
30 Jahre Phantom-Tor

Ist der Ball drin? Foto: Screenshot

Inhaltsverzeichnis

Es gibt nicht viele Tore, die nach einem Spieler benannt sind. Wenn es mal geschieht, dann gereicht es dem Schützen nicht unbedingt zur Ehre. Man frage nach bei Torwart Tomislav Piplica. Im Zweifel hätte er das Tor lieber gar nicht erzielt, es war ja ein Eigentor. So ähnlich und doch ganz anders war das auch bei Bayern Münchens Abwehrspieler Thomas Helmer vor 30 Jahren, als die heile Welt der Schiedsrichter ins Wanken geriet. Als ein Spiel wiederholt wurde, weil ein Tor zählte, obwohl der Ball auf der Tartanbahn kullerte.

Drei Spiele vor Ende der Saison 1993/94 ist in der Bundesliga noch fast alles offen. Bayern München ist zwar Tabellenerster, aber noch lange nicht Meister – nach dem 0:4-Debakel in der Vorwoche bei Verfolger 1. FC Kaiserslautern beträgt der Vorsprung nur zwei Punkte. Mit dem VfB Leipzig steht erst ein Absteiger fest, vier Klubs kämpfen noch um den Klassenerhalt. Einer ist der 1. FC Nürnberg.

Darum ist das Derby zwischen Bayern München und dem Club aus Nürnberg mehr als nur ein Prestigespiel. Der Trainer beim FC Bayern hieß damals Franz Beckenbauer, und der Kaiser hat natürlich ein bisschen getobt nach der Blamage. Die Mehrheit der 63.000 Zuschauer im ausverkauften Olympiastadion in München verlangt Wiedergutmachung.

Sie werden sie nicht erhalten, denn der Sieg, den der FC Bayern einfährt, ist nichts wert – jedenfalls nicht im ersten Moment.

Dafür werden die Zuschauer Zeugen eines Novums in der Bundesliga-Historie, in deren Annalen seit jenem Tag vor dreißig Jahren ein Phantom-Tor einzog.

Es fällt in der 23. Minute nach einem Eckball von rechts, den Marcel Witeczek dicht vor das Tor dreht. Club-Torwart Andreas Köpke kommt zu Fall, Thomas Helmer schießt Köpke aus wenigen Zentimetern auf der Linie an. Der Ball prallt wieder zu Helmer, der ihn mit einer kuriosen Bewegung mit der Hacke am Tor vorbei stochert. Das ist wohl der Verteidiger in ihm: Eigentlich ist es unmöglich, dieses Tor nicht zu machen. Aber alle sehen es ja: Der Ball rollt auf die Tartanbahn des Olympiastadions.

Köpke tröstet seinen Kollegen aus der Nationalmannschaft, tätschelt ihn am Kopf und sagt: „Den Ball am Tor vorbeizubringen, war schwieriger, als ihn reinzuschießen.“ Franz Beckenbauer draußen an der Trainerbank schlägt die Hände vors Gesicht und stöhnt: „Eigentlich muss das ein klares Tor sein.“

Aber dann tritt ein Mann auf die Bühne dieser Comedy-Veranstaltung und ändert die heiligsten Fußballgesetze. Jörg Jablonski, der Linienrichter, der an diesem Tag berühmt wird, hebt die Fahne und signalisiert Tor. Premiere-Kommentator Fritz von Thurn und Taxis schreit in sein Mikrofon: „Das ist eine furchtbare Fehlentscheidung.“

Die Entscheidung trifft Schiedsrichter Hans-Jürgen Osmers, aber nur weil Sportkamerad Jablonski so heftig winkt. Zu dessen Ehrenrettung sei gesagt, dass auch zahlreiche Zuschauer, die direkt hinter ihm sitzen, aufspringen und jubeln. Aber dann setzen sie sich wieder hin, weil der Ball ja ganz offensichtlich neben das Tor kullert. Doch wo war er Sekundenbruchteile vorher?

Das will Osmers den Spieler Helmer auch gefragt haben, und der Spieler habe auf Tor bestanden. So erzählte er es noch 2019, und Helmer beschwor einmal mehr, es habe nie einen Dialog gegeben. Die Recherche anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums dieses Tores hat gelehrt, wie mühsam es ist, Vorgänge nach so langer Zeit noch aufzuklären. Hier stand und steht noch immer Aussage gegen Aussage. Helmer und Osmers sind sich übrigens 24 Jahre aus dem Weg gegangen, dann trafen sie sich in Bremen in einer Sponsorenloge und sprachen über Gott und die Welt. Nicht aber über das Tor, das ihr Leben veränderte.

Zurück nach 1994, wo an diesem Frühlingstag die Wellen der Empörung das ganze Wochenende über hoch schlagen und die Meldung von der Verhaftung des Kaufhauserpressers Dagobert in den Schatten stellen.

Die Bayern nehmen das Geschenk an und gratulieren Helmer, der beteuert: „Ich habe nichts gesehen.“ Tatsächlich steht er beim Nachschuss mit der Hacke mit dem Rücken zum Tor. Mit 1:0 geht es in die Halbzeit, Nürnbergs Marc Oechler handelt sich wegen seines Protestes eine Verwarnung ein.

In der Halbzeit versichert Jablonski Osmers: „Du brauchst Dir keine Gedanken machen, der Ball war klar im Tor.“

Doch als die Unparteiischen ihre Kabine wieder verlassen, sehen sie auf einem Monitor, was fast alle gesehen haben – kein Tor. Osmers: „Von da an war es schwierig für mich, die Partie zu leiten. Aber es ist mir ganz gut gelungen.“

In der Tat: Vom Schiedsrichterbeobachter erhält er 46 von 50 möglichen Punkten, bedeutet „sehr gut“. Darüber darf man ruhig ein bisschen lachen, noch funktioniert der DFB-Abschirmdienst für seine Schiedsrichter.

Das Spiel endet 2:1 für die Bayern, Helmer schießt noch ein Tor, was heute sicher kaum noch jemand weiß. „Das Phantom-Tor“ überstrahlt in der Erinnerung an diesen Tag alles – auch ein zweites Tor eines Innenverteidigers, der sonst keine schießt. Nürnberg verkürzt in der 79. Minute auf 2:1. Gleich danach kriegen die Gäste einen Foulelfmeter, den ausgerechnet Helmer verursacht. Doch der etatmäßige Schütze Sergio Zarate fehlt, und Ex-Bayer Manfred Schwabl scheitert an Torwart Raimond Aumann.

So bleibt es beim 2:1 – und nur deshalb wiederum wird es nicht dabei bleiben.

Hätte Schwabl verwandelt, „hätten wir niemals Protest eingelegt“, sagt der Schütze später. Ein Punkt beim Tabellenführer wäre ein großer Erfolg gewesen und hätte dem DFB allerlei Schwierigkeiten erspart. Auch Osmers hat längst zugegeben, dass er bei Schwabls Schuss nicht ganz unparteiisch war: „Als er verschoss, war ich der Ohnmacht naher.“

Denn nun geht der Wirbel erst richtig los. Es bleibt nicht bei Interviews im Stadion. Als Osmers nach Bremen zurückkehrt, sieht er sein Haus von Reportern belagert. Sein Büro ebenfalls. Die Tagesthemen schalten ihn zu, Starmoderatoren wollen ihn in ihrer Sendung haben. Verständnislos denkt sich Osmers: „Habe ich denn jemanden umgebracht?“ Seine Frau zieht schließlich den Stecker aus der Telefonbuchse, Handys sind anno 1994 kaum verbreitet. Damit hat diese Familie Osmers Ruhe, andere gleichen Namens, darunter ein Chefarzt einer Bremer Klinik, werden noch tagelang irrtümlich terrorisiert.

Der Kicker erreicht Linienrichter Jablonski am Sonntag am Telefon und erfährt seine Version der Dinge. Wir hören noch mal mit, was er, im Hauptberuf Sanitäts-Feldwebel, zu Protokoll gibt: „Ich stehe genau an der Eckfahne und gucke in die Sonne. Der Spieler Helmer steht am hinteren Pfosten vor der Torlinie. Ich sehe, wie Köpke auf den Ball zustürzt und wie Helmer den Ball über die Linie bringt. Ich war hundertprozentig der Überzeugung, dass der Ball hinter der Linie war. Weil Helmer zwischen den Pfosten gestanden und die Hacke genommen hatte. Ich war überzeugt, dass Helmer den Ball nicht am Pfosten vorbei, sondern ins Tor getreten hatte. Deshalb hob ich die Fahne. Erste Zweifel kamen mir aber schon, als der Ball neben dem Tor lag. Zumal Köpke und einige Club-Spieler auf mich zustürmten. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen entschieden.“

Osmers und Kollege Jablonski müssen nicht nur der Presse Rede und Antwort stehen. Denn kommt, was kommen muss: Am nächsten Tag legt der 1. FC Nürnberg fristgerecht Protest gegen die Spielwertung ein. Gegen eine Tatsachenentscheidung zwar, aber unter Berufung auf einen Präzedenzfall aus dem Jahr 1978, als beim Zweitligaspiel Borussia Neunkirchen gegen die Stuttgarter Kickers ein Ball seitlich durch ein Loch im Netz ins Tor kullerte und der Schiedsrichter den Treffer anerkannte. Das Spiel wurde wiederholt.

Nun hoffen auch die Nürnberger auf Gerechtigkeit und wissen die Fußball-Nation hinter sich. Bei einer repräsentativen Umfrage des Wickert-Instituts stimmen 91 Prozent der Teilnehmer für Wiederholung. Am Dienstag, 26. April, kommt das Sportgericht nach 311 Minuten Verhandlung in Frankfurt zu einem Urteil, das die Volksseele befriedigt: Spielwiederholung!

Es ist eine doppelte Bundesliga-Premiere: Eine Tatsachenentscheidung wird gekippt, und zwischen vorletztem und letztem Spieltag – was eigentlich nicht sein soll – wird ein Spiel eingebaut. Es steigt am Dienstag, 3. Mai. Die Einnahmen sollen zwischen den Klubs geteilt werden, Bayern-Manager Uli Hoeneß kündigt an, den Münchner Anteil an die vom Bürgerkrieg stark betroffene bosnische Stadt Gorazde zu spenden.

Interessant ist die Begründung des Urteils, mit der der DFB das Prinzip der unanfechtbaren Tatsachenentscheidung zu retten versucht. Osmers und Jablonski hätten demnach zwei verschiedene Szenen bewertet, den ersten beziehungsweise den zweiten Schussversuch Helmers. Denn dass der Ball beim zweiten Versuch neben das Tor kullerte, konnte Osmers genau sehen. Er beanspruchte demnach Jablonskis Hilfe schon beim ersten Versuch. Da diese aber nur Sekundenbruchteile auseinander lagen, bezog Osmers Jablonskis Signal angeblich schlicht auf die falsche Szene.

„Die Häme der Zuschauer war so groß.“

„Der Doppelfehler der Unparteiischen führte mithin zur Aufhebung der Fehlentscheidung und Neuansetzung der Partie“, erklärt der Kicker seinen Lesern, was 100 Reporter und 15 Kamerateams vor Gericht aus erster Hand erfuhren. Dass sie es alle verstanden hätten, kann man wohl nicht behaupten.

Wohl aber den Kommentar im Kicker: „Ein Schuss neben das Tor darf kein Treffer sein, das würde den Sinn des Fußballs ad absurdum führen. Fatal an Osmers’ Irrtum ist der späte Zeitpunkt der Saison.“ Tatsächlich legt Club-Konkurrent SC Freiburg Protest ein. Das Spiel solle gefälligst vor dem 33. Spieltag stattfinden, und dieser sei dann eben komplett auf den Dienstag danach zu verlegen. Warum? Weil es sonst sein könne, dass beide Mannschaften ein Remis bräuchten, um ihre Ziele zu erreichen, „und dann weiß ich schon vorher, wie es ausgeht“, sagt der Freiburger Vereinspräsident Achim Stocker.

Der Antrag wird abgelehnt. Alles kommt ohnehin ganz anders. Das von Sat.1 live übertragene Wiederholungsspiel wird eine klare Angelegenheit für die Bayern, die 5:0 gewinnen und vier Tage später Meister werden – während Nürnberg wegen der schlechteren Tordifferenz absteigt.

Osmers pfeift noch ein Jahr Bundesliga und hört dann planmäßig auf, der weit jüngere Jablonski wird nur noch in der Regionalliga eingesetzt und gibt nach zwei Jahren das Winken auf, denn „die Häme der Zuschauer war so groß“.

Thomas Helmer wird noch Europameister, Uefa-Pokalsieger, Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger und arbeitet jetzt als Moderator bei Sport1 – aber nichts hat ihn so berühmt gemacht wie sein Phantomtor. 

  • Fun Fact 1: Der DFB handelte sich eine Rüge der Fifa ein, die die Tatsachenentscheidung in dem Urteil verletzt sah. Als er wegen eines ähnlichen Falls 1995 das Zweitligaspiel VfB Leipzig gegen Chemnitzer FC (2:3) wiederholen lässt, wird die Wiederholung (1:0) auf Druck der Fifa rückgängig gemacht und das ursprüngliche Resultat zählte wieder.
  • Fun Fact 2: Die Gelben Karten aus dem Spiel vom 23. April behielten ihre Gültigkeit, die Tore dagegen wurden annulliert. 
  • Fun Fact 3: Helmer moderierte viele Jahre den Sport1-Doppelpass. Gäste wurden von der Redaktion gebeten, ihn nicht auf das Phantomtor anzusprechen, es nerve ihn zu sehr.
  • Fun Fact 4: Jörg Jablonskis Sohn Sven wurde Bundesliga-Schiedsrichter.