Sevilla 1982: Die schlimmste Nacht von Toni Schumacher

Die erfolgreiche Karriere des Kölschen Tünn bleibt immer mit seinem schlimmen Foul an Battiston verbunden. Bis heute!

|6. März 2024|
Sevilla 1982: Die schlimmste Nacht von Toni Schumacher
Sevilla 1982: Die schlimmste Nacht von Toni Schumacher

Foto: Imago / Werek

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Manch großer Fußballer hat das Pech, dass seine Karriere auf eine Aktion reduziert wird, je länger sie hinter ihm liegt. Wie etwa Thomas Helmer, immerhin Europameister, der ewig auf sein Phantomtor angesprochen wird. Auch Toni Schumacher, deutscher Nationaltorwart der Achtziger, wird weit seltener auf sein Double mit dem 1. FC Köln oder den EM-Triumph 1980 angesprochen als auf eins der brutalsten Fouls der WM-Geschichte. Leider war er der Übeltäter im „Fall Battiston“. Daran wird dieser Tage wieder vielfach erinnert, nicht weil das Foul Jubiläum hat, sondern Schumacher. Er wurde diese Woche 70 und geht längst gelassen damit um, denn er hat die Größe, Fehler einzugestehen. Eine Zeitreise in den spanischen Sommer 1982 – nach Sevilla.

Deutschland oder Frankreich – wer erreicht das Finale von Madrid? Es gab keinen Favoriten an jenem schwül-warmen Abend des 8. Juli 1982, als noch zur Anstoßzeit um 21 Uhr 33 Grad Celsius gemessen wurde. Eine leichte Brise ging vor dem Spiel, das einen Sturm entfachen sollte. Der Begeisterung und der Entrüstung. Denn es war ein Abend der ganz großen Gefühle und für viele, die das Halbfinale 1970 gegen Italien (3:4 n.V.) nicht sahen, fand das Spiel des Jahrhunderts in Sevilla statt.

Ein solches Spektakel war nicht zu erwarten. Während sich die Franzosen von Spiel zu Spiel gesteigert hatten und alle Welt vom Zauber-Trio Platini/Giresse/Tigana schwärmte, hatte sich Europameister Deutschland bei  dieser WM wieder mal durchgewurstelt und das Image der Turniermannschaft genährt. Sie kann spielen, wie sie will, sie bleibt im Turnier. Den Schönheitspreis sollen andere holen.

Zunächst lief es dennoch gut für die Deutschen im Stadion Piz Juan: Pierre Littbarski traf nach fünfzehn Minuten die Latte. Kurz danach sorgte er für die Führung (18.), nach Klaus Fischers Vorarbeit war er zur Stelle. Doch dann verursachte Bernd Förster einen Foulelfmeter an Dominique Rocheteau, den Michel Platini verwandelte (27.). Das Drama nahm einen langen Anlauf.

Kein Mensch würde heute wohl mehr über den sportlichen Unterhaltungswert des Halbfinales reden, wenn Manuel Amoros in der 90. Minute den Ball nur ein paar Zentimeter niedriger geschossen hätte. Aber er traf die Latte des deutschen Tores, das seit der 57. Spielminute der Buhmann des Abends hütete: Harald „Toni“ Schumacher aus Köln. Er hatte den eingewechselten Franzosen Patrick Battiston in höchster Not über den Haufen gerannt, dessen Auswechslung bewirkt, aber ein Tor verhindert.

Mehr als nur dieses eine Foul: Harald Schumacher wird 70 Jahre alt
Im dritten Anlauf wäre Harald Schumacher wohl nach den verlorenen Endspielen von 1982 und 1986 1990 Weltmeister geworden – hätte er nicht ein Buch geschrieben. So feierte sein Nachfolger Bodo Illgner den Titel. Dies ist eine Geschichte aus 70 Lebensjahren der Kölner Torwart-Legende, die gerne ihr eigenes Konterfei verprügelte.

Beim Herauslaufen war Toni mit dem Hüftknochen und voller Wucht ins Gesicht des Franzosen gesprungen. Battiston war zu Boden gegangen, aber der Ball neben das Tor. Battiston wurde vom Platz getragen, der Halswirbel war angeknackst, zwei Schneidezähne fehlten. Das war schlimm. Dass Schumacher Kaugummi kauend am Torpfosten stand, reglos und scheinbar auch sorglos, machte es noch schlimmer. Auf der Tribüne brach auch die Freundin des Opfers weinend zusammen, als sie den Abtransport sah. „Der rechte Arm hängt schlaff herab, es sind Bewegungen da“, meldete ZDF-Kommentator Rolf Kramer, der Verständnis für den Torwart hatte: „Toni Schumacher musste alles wagen. Das ist halt ab und zu drin, wenn beide Mannschaften in die Vollen gehen.“

So sieht Toni es heute noch. Im Geburtstagsinterview sagte er mir:

„Der Fall Battiston gehört auch zu meinem Leben. Das Wichtigste war, dass ich mich entschuldigt habe und er das auch angenommen hat. Aber als ich ihm die Hand gegeben habe, habe ich ihm auch gesagt: ‚Ich komme wieder so raus, wenn der Ball noch mal so gespielt werden würde.‘“

Die Aussöhnung fand eine Woche später in Metz statt, Battiston kam direkt aus dem Krankenhaus von einer Nachuntersuchung und trug eine Halskrause. Das Treffen sollte eigentlich in kleinem Rahmen stattfinden, aber als die Protagonisten den Raum einer Zeitungsredaktion verließen, erwartete sie ein riesiges Medienaufgebot. Denn das Foul hatte hohe Wellen geschlagen – auch wegen des anschließenden Verbalfouls des deutschen Torhüters.

Schumacher hatte nach Abpfiff des Dramas einem Journalisten den berühmten Satz: „Sagt ihm, dass ich ihm die Jacketkronen zahle.“ Das will er nett gemeint haben, beteuert er immer noch, wurde ihm aber als Zynismus ausgelegt. „Schumacher, Beruf Unmensch“, schrieb die L’Equipe damals.

Für Battiston war das Spiel zehn Minuten nach seiner Einwechslung schon wieder zu Ende. Bis heute leidet er zuweilen an den Folgen des Zusammenstoßes, der sechs Kieferoperationen nötig machte. 2008 sagte er: „Der Rücken, der Hals, das Sehen. Ich habe gesundheitliche Folgen, die mich an Sevilla erinnern.“

Danach sprach er nicht mehr oft darüber, und dem deutschen Journalisten Stephan Klemm, der 2022 ein großartiges Buch über die Nach von Sevilla herausbrachte, wollte er nur unter Voraussetzung treffen, dass das auch so bleibe. Man könne aber gerne einen Wein trinken. Klemm kam dann lieber doch nicht.

In der deutschen Botschaft türmten sich 1982 die Protest- und Drohbriefe. Es wurden geschmacklose Vergleiche zu den Kriegsverbrechen der Nazis in Frankreich gezogen. Er sei aus einem Holz geschnitzt wie die Wächter von Dachau und Auschwitz, musste er über sich lesen. „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens“, schrieb Toni schon 1987 in seinen Erinnerungen im Buch „Anpfiff“, das die nächste schlimme Zeit auslösten, weil sie heiße Eisen wie Doping und Sex berührten und seine Karriere beim DFB und beim 1. FC Köln beendeten. Aber das ist eine andere Geschichte, die erzählen wir ein anderes Mal.

Zurück nach Sevilla, wir schulden noch den Spielausgang:

Mit 1:1 ging es in die Verlängerung, in der die Deutschen ihre gerechte Strafe zu bekommen schienen, denn schnell lagen in diesem epischen Spiel mit 1:3 zurück. Doch sie waren immer noch eine Turniermannschaft: Der eingewechselte Karl-Heinz Rummenigge traf prompt, und dann glich Klaus Fischer per Fallrückzieher – wie auch sonst? – aus. Nach 120 Minuten ging es an den Kreidepunkt und Schumacher, der Buhmann, wurde mit zwei Paraden zum Helden der Nacht. Erst um 23.41 Uhr stand der Sieger fest – und es war der Falsche aus Sicht der Franzosen und aller Neutralen. Es war zu viel für die Seele der Franzosen.

Fast dreißig Jahre später sagte Alain Giresse dem Magazin 11 Freunde: „Man kann nicht etwas auf diese Art und Weise verlieren und dann seinen Frieden damit machen. Man lebt damit, aber es ist so als würde man einen Angehörigen verlieren und sagen ’Ich habe ihn vergessen.’ Das ist unmöglich.“

Auch das Spiel ist nicht vergessen. 2022 erschienen gleich zwei Bücher und es gab eine Sonderausstellung im DFB-Museum, in Frankreich wurde schon 2010 ein Doku-Film gedreht mit dem schlichten Namen France/Allemagne.

Manche Spiele sind nie zu Ende.

  • Fun Fact 1: Schumacher bekam damals nicht mal Gelb
  • Fun Fact 2: Am 24. Mai wird im Dortmunder Fußballmuseum ein Theaterstück in fünf Akten über die Nacht von Sevilla aufgeführt – und Schumacher liest den Schlussmonolog.