Auf dem Betze: Der erste Spielabbruch der Bundesliga

Wegen der Fanproteste in den Stadien standen zuletzt mehrere Bundesliga-Spiele vor dem Abbruch. Den ersten Abbruch gab es 1976 in Kaiserslautern - wegen einer Schnapsflasche

|14. Februar 2024|
Auf dem Betze: Der erste Spielabbruch der Bundesliga
Auf dem Betze: Der erste Spielabbruch der Bundesliga

Schiedsrichter Heinz Frickel will nicht mehr: Er bricht das Bundesliga-Spiel auf dem Betzenberg ab. Foto: Imago / Ferdi Hartung

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Es ist derzeit die größte Sorge der Liga: dass durch die massiven Fanproteste der Wettbewerb verzerrt wird, weil sich der Schiedsrichter zu einem Spielabbruch gezwungen sieht. Wie wird es dann gewertet, sind die Verursacher klar zu ermitteln und inwieweit ist der Gastgeber dafür verantwortlich?

Bisher ging sowas stets schlecht für sie aus. Den Präzedenzfall erlebte die Bundesliga im Herbst 1976, obwohl damals weit weniger passierte als in diesen Tagen. Es geht auf den schon damals berüchtigten Betzenberg, wo erstmals ein Spiel wegen Zuschauerausschreitungen abgebrochen wurde, nachdem vorher lediglich Nebel und Eis für so etwas verantwortlich gewesen waren.

Nun aber gab es Täter aus Fleisch und Blut.

Am 15. Spieltag der Saison 1976/77  empfängt der 1. FC Kaiserslautern die Düsseldorfer Fortuna. Die Pfälzer gehören noch zu den Dinos der Bundesliga und haben seit 1963 keine Saison verpasst, Fortuna spielt seit 1972 wieder mit. In Kaiserslautern hat sie in sechs Gastspielen nur einen Punkt erbeutet, und mehr will sie auch diesmal gar nicht. „Wenn die Mannschaft in Dortmund gewinnt, dann ist sie auch in der Lage, am Betzenberg einen Punkt zu holen“, sagt Präsident Kurt Schneider. Borussia Dortmund, muss man wissen, ist damals noch ein Aufsteiger.

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Der Respekt vor der Atmosphäre im klassischen Fußballstadion in Kaiserslautern, wo man nie auf die Idee kam, eine Laufbahn zu errichten, ist auch in jener Saison allgemein. Das drückt sich nicht immer in Komplimenten aus.

„Kaiserslautern hat das schlechteste Publikum der Bundesliga“, steht am Spieltag in einer Düsseldorfer Zeitung. Doch es ist ein Faktor für die Lauterer. Zwar spielt der FCK eine schwache Hinrunde (Platz 14), aber alle vier Siege hat er auf seinem „Betze“ geholt. Nummer fünf will die Elf von Trainer Erich Ribbeck an jenem 27. November 1976 einfahren, die Fortuna unter Lauterns Ex-Coach Dietrich Weise kommt mit einer Siegesserie von drei Spielen und hat naturgemäß etwas dagegen. Sie meldet nahezu Bestbesetzung, sodass für den kommenden Nationalspieler Rudi Bommer nur ein Platz auf der Bank bleibt.

Das Spiel nimmt keineswegs seinen erwarteten Verlauf, womöglich auch weil nur 12.000 Zuschauer gekommen sind. Fortuna zeigt sich selbstbewusst und bestimmt die Partie, die vor der Pause nur dank der Paraden von FCK-Keeper Ronnie Hellström torlos bleibt. Nach 56 Minuten gelingt Fortuna-Kapitän Gerd Zewe das 0:1 und der FCK erhöht den Druck. Die Fortunen greifen vermehrt zu unfairen Mitteln, die Chroniken erwähnen namentlich Josef Hickersberger, bei der EM 2008 Nationaltrainer Österreichs und gemeinsam mit Jogi Löw auf die Tribüne verbannt, und Haudegen Heiner Baltes.

Ihre Fouls lässt Schiedsrichter Heinz Frickel (München) für den Geschmack der Fans einmal zu oft durchgehen. „Wäre er der Foulspielserie gleich mit Ermahnungen und Gelben Karten begegnet, hätte wahrscheinlich das ganze Hick-Hack vermieden werden können“, tadelt der Kicker am Montag danach.

So aber nimmt das Unheil seinen Lauf, besser: seine Flugbahn.

In der 76. Minute legt Fortune Dieter Brei seinen Gegenspieler Wolfgang Metzler, und prompt fliegt das erste Wurfgeschoss auf den Rasen. Frickel selbst nimmt es auf: ein leeres Schnapsfläschchen der Marke Schlichte. Er übergibt es dem Linienrichter und weist FCK-Kapitän Seppl Pirrung an, für eine Lautsprecherdurchsage zu sorgen – mit dem Hinweis, dass ein Spielabbruch drohe, wenn das so weiterginge.

Pirrung erzählt es seinem Trainer, doch bis die Botschaft in Zeiten, da noch niemand von Handys auch nur zu träumen gedenkt, unterm Stadiondach angekommen ist, sind zwei weitere Fläschchen gleicher Marke und ein Gasfeuerzeug geflogen.

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Die dritte kleine Schnapsflasche ist die eine zu viel, obwohl sie es nicht mal auf den Rasen schafft. Spieler beider Mannschaften rennen zum Corpus delicti: die einen, um es zu sichern, die anderen, um es verschwinden zu lassen.

Ein Fortune ist schneller und übergibt es Frickel, was sozusagen die spielentscheidende Szene ist. Gerade hat der Stadionsprecher seinen Appell begonnen („Liebe Sportfreunde in der Westkurve“), da ist nach knapp fünfminütiger Unterbrechung Feierabend – Abbruch Nummer 1 der Bundesligageschichte wegen Fan-Ausschreitungen ist perfekt.

Frickel begründet das nicht sonderlich charmant so: „Ich bin doch kein Bauernschiedsrichter.“ Daraufhin wird der pfälzische Bauernverband eine Beleidigungsklage erwägen, zu der es dann doch nicht kommt.

FCK-Präsident Willi Müller empört sich über den Abbruch: „Dem Schiri sind die Nerven durchgegangen, die Ordnung im Stadion war zu keinem Zeitpunkt gefährdet.“ Schließlich habe man 160 Ordner und 77 Polizisten im Einsatz gehabt.

Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister und dem Polizeipräsidenten Kaiserslauterns setzt der Verein eine Erklärung auf, wonach der Schiedsrichter die Pflicht und die Möglichkeit gehabt hätte, das Spiel fortzusetzen. Sie werfen ihm „menschliches Versagen“ vor.

Auch die Trainer stellen sich auf die Seite der Rowdys. „Wenn diese Bagatelle richtungsweisend ist, dann werden kaum noch Spiele der ersten und zweiten Liga zu Ende gebracht“, grollt Ribbeck. Und Weise stimmt nickend zu.

Der verletzte FCK-Kapitän Ernst Diehl, offenbar anderes gewohnt, beschwört aus seiner Tribünenperspektive: „Die Situation war nicht reif für einen Spielabbruch.“

Der DFB ist anderer Meinung. In der Sportgerichtsverhandlung am 8. Dezember attestiert Kontrollausschussvorsitzender Hans Kindermann dem FCK „mangelnden Schutz des Schiedsrichters, der Linienrichter und der Spieler des Gegners sowie schuldhaftes Herbeiführen eines Spielabbruchs“.

Dafür gibt es, wie einst beim Gladbacher Pfostenbruch anno 1971 nur ein Urteil: eine Wertung gegen die Gastgeber (0:2). Die legen Berufung ein und verlieren ein weiteres Mal in dieser Angelegenheit. Es hat keine Verletzten gegeben, keine Stadionverbote, nicht mal einen identifizierten Täter – und doch greift der DFB hart durch. Wie noch 2011 bei St. Pauli gegen Schalke und 2022 bei Bochum gegen Gladbach (Bierbecherwürfe auf Linienrichter).

Wann ahndet der DFB die Tennisballwürfe? 

  • Fun Fact 1: Durch das gewertete Ergebnis existiert in den Statistiken von Fortuna Düsseldorf und in der Ewigen Tabelle ein Phantom-Tor, das niemand erzielt hat.
  • Fun Fact 2: Ein Aachener Professor schlug wegen der sich häufenden Exzesse vor, dass Zuschauer die Chance bekommen sollten, auf den Stadienvorplätzen wie auf der Kirmes den Lukas hauen oder nach Büchsen werfen zu können – um Aggressionen abzubauen.
  • Fun Fact 3: Das Urteil sah für den Fall, dass Fortuna durch den Sieg am Grünen Tisch Meister geworden, in den Europapokal eingezogen oder nicht abgestiegen wäre, laut Spielordnung ein Entscheidungsspiel gegen die dadurch indirekt geschädigte Mannschaft vor. Dazu kam es nicht, sie hatte drei Punkte Vorsprung vor dem ersten Absteiger Karlsruher SC (für den Sieg hatte es damals nur zwei gegeben).