Das Horror-Foul der Bundesliga
Als sein Oberschenkel vom Gegenspieler aufgeschlitzt wurde, rastete Ewald Lienen aus - und griff Trainer Otto Rehhagel auch juristisch an
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Kein Mensch befindet sich gern in der Opferrolle, schon gar nicht ein Leben lang. Auch Ewald Lienen nicht. Eine angesehene Persönlichkeit der deutschen Fußballgeschichte, die ihren Kopf auch außerhalb des Spielfeldes gewinnbringend einzusetzen vermochte. Schon als Jung-Profi politisch engagiert in der „Friedensliste“, immer auf der Seite der Schwachen und kritisch gegenüber den Auswüchsen des Geschäfts, von dem auch er gut lebte.
Als Spieler gewann er den Europapokal, als Trainer feierte er Aufstiege – aber für nichts steht sein Name mehr als für das schrecklichste Foto der Bundesligageschichte, entstanden nach einem Foul. Er war das Opfer und immer, wenn er runden Geburtstag feiert oder die Partie Werder Bremen gegen Arminia Bielefeld wieder einmal auf dem Programm steht, ergreift Betrachter das Schaudern. So also sieht es unter der menschlichen Haut aus. Auch Fußballfans wissen das seit am 14. August 1981 ein Oberschenkel aufgeschlitzt wurde.
Zu Beginn der Achtziger Jahre war es in der Bundesliga vorbei mit der Romantik der Gründerjahre und auch dem schönen Spiel. Beckenbauer, Netzer und Overath hatten die Schuhe an den Nagel gehängt, es schlug die Stunde der harten Jungs.
Wegen der Flut der Verwarnungen hatte der DFB 1979 bereits die Gelb-Sperre eingeführt, ein netter Versuch, aber doch nur ein unzureichendes Mittel. Auf dem Platz floss regelmäßig Blut, manchmal knackten auch die Knochen.
Duisburgs Paul Steiner trat Heinz Flohe (1860 München) das Schienbein durch, Frankfurts Bruno Pezzey schlug Leverkusens Jürgen Gelsdorf in den Unterleib, der wiederum trat Frankfurts Bum-kun Cha ins Krankenhaus und bekam Morddrohungen. Schalkes Manfred Drexler trat den am Boden liegenden Münchner Wolfgang Kraus in die Rippen. Und so weiter und so fort.
An einem Freitagabend im Weser-Stadion wurde eine neue Dimension erreicht, jedenfalls auf den ersten, damals wie heute schauerlichen Blick. Was war geschehen?
In der 19. Minute schlitzt Werder-Verteidiger Norbert Siegmann Gegenspieler Ewald Lienen im Kampf um den Ball den Oberschenkel mit den Stollen auf, die Wunde ist 25 Zentimeter lang.
Man sieht alles, was man nie sehen wollte: Gewebe, Knochenmark, zerplatzte Haut. Siegmann sieht nur Gelb, was Schiedsrichter Merdadus Luca noch länger beschäftigen wird: „Ich habe in den Tagen danach kaum was essen können, so hat mich der Vorfall mitgenommen.“
Lienen dagegen sieht Rot. Er dreht vor Schmerz regelrecht durch, hüpft von der Trage und packt sich Bremens Trainer Otto Rehhagel: „Du hast dem doch gesagt, dass er mich umhauen soll.“ Heftige Vorwürfe, von Adrenalin gesteuert.
Später sagt Lienen: „Als ich meinen offenen Oberschenkel sah, stand ich unter Schock, hatte mehrere Gedankenblitze. Rehhagel hatte Siegmann kurz vorher an die Seitenlinie geholt, das hatte ich direkt miteinander verbunden.“
Nicht ganz abwegig, Rehhagel gilt als vorbestraft, ein ähnlicher Fall beim Hessen-Derby zwischen Eintracht Frankfurt und Kickers Offenbach hat ihn 1976 seinen Job gekostet. Damals beschuldigte Weltmeister Bernd Hölzenbein Rehhagel, der habe seinen Spieler Armand Theis zu Brutalitäten aufgefordert, und blieb auch dabei, als Rehhagel Hölzenbein zu Hause aufsuchte und die Sache unter Fußballern regeln wollte. Das Sportgericht sperrte, der OFC feuerte ihn.
Auch Lienen steht der Sinn nicht nach Versöhnung. Mit Kreislaufkollaps bricht er zusammen und wird abtransportiert ins Krankenhaus, wo die Wunde mit 23 Stichen genäht wird. Kaum wieder bei Sinnen, zieht er vom Krankenbett aus in den Krieg der Worte. Er hält seine Vorwürfe an Rehhagel aufrecht: „Ein paar Minuten vor dem Foul habe ich deutlich gehört, wie Rehhagel Verteidiger Siegmann aufgefordert hatte: ‚Jetzt pack ihn endlich.’“ Er tituliert Rehhagel als „Amokläufer, von dem ich nicht mal eine Entschuldigung annehmen würde.“
Das alles halt Folgen. Auf der Werder-Geschäftsstelle gehen ein knappes Dutzend Morddrohungen gegen Rehhagel ein, einer textet: „Das Todeskommando ist schon unterwegs, Du wirst sterben!“ Zu Hause lebt er ein paar Tage allein, Frau Beate und Sohn Jens werden bei Freunden untergebracht, und die Polizei fährt Streife vor dem Haus.
Das wird sich wieder geben, nur Lienen gibt keine Ruhe. Er strebt eine Zivilklage an. Ganz Aktivist, der er war, wollte er „einen Präzedenzfall schaffen, dass das damalige Abwehrverhalten in der Bundesliga nicht rechtmäßig war“, gestand er 2019 dem Kicker.
Zunächst aber ist er der Angeklagte. Der von Werder Bremen eingeschaltete Anwalt fordert ihn ultimativ auf, bis 20. August zurückzunehmen, dass Siegmann ihn absichtlich gefoult und Rehhagel das angeordnet habe, ansonsten gebe es eine Einstweilige Verfügung. Ferner schreibt der Anwalt am 17. August 1981: „Sie versprechen, für jeden Fall der Zuwiderhandlung eine Vertragsstrafe in Höhe von 1000 DM, zahlbar an das SOS Kinderdorf, zu leisten.“
So sozial Lienen auch eingestellt ist, er verspricht gar nichts, zahlt aber auch nichts und reicht Klage beim Landgericht Bremen ein, die am 29. Oktober 1981 als unbegründet abgewiesen wird. Ebenso wie seine sofortige Beschwerde vom 2. November, dafür braucht die Generalstaatsanwaltschaft immerhin drei Wochen.
Man amüsiert sich köstlich darüber, wie Juristen Abläufe im Fußball betrachten. Wir lesen mal rein in das Schreiben: „Nach Sachlage ist davon auszugehen, daß der mit gestrecktem Bein vorgetragene Angriff nicht Ihrem Mandanten, sondern dem Ball gegolten hat. Dieses ‚Hineingrätschen’ ist eine bei Fußballspielen häufig zu beobachtende Abwehr- oder Angriffsmethode, bei der auch körperliche Einwirkungen auf den Gegner im Kampf um den Ball manchmal nicht zu vermeiden sind, die aber selbst sportlich nicht geahndet werden, wenn sie nicht dem Gegenspieler, sondern dem Ball gelten.“
Siegmanns Verhalten sei „allenfalls im Grenzbereich zwischen erlaubter Härte und unfairem Spiel liegend“ anzusehen. Es sei daher „nicht mit Sicherheit feststellbar, daß er in grober Weise und damit strafrechtlich relevant gegen die Regeln verstoßen hat.“ In dubio pro reo – und tat’s auch noch so weh.
Das Verfahren werde eingestellt, zumal der DFB eine eigene Sportgerichtsbarkeit habe. Auch dort erreicht er sein Ziel nicht.
21 Zeugen werden im Oktober gehört, damals eigentlich noch nicht als Beweismittel zugelassene TV-Aufnahmen seziert. Chefankläger Hans Kindermann fordert vier Wochen Sperre für Rehhagel und 10.000 DM Geldstrafe, aber weil sich kein schlagender Beweis für einen absichtlichen Tritt (wie auch?) findet, wird der Angeklagte im Zweifel frei gesprochen. Lienen begreift: Da ist nichts zu holen.
Zumal er selbst alsbald von einer „weniger schlimmen Verletzung“ spricht, die halt nur besonders übel ausgesehen hat. Nach vier Wochen ist er wieder am Ball.
Immerhin hat er eine Debatte angestoßen. Eintracht Braunschweigs Präsident Hannes Jäcker hat schon fünf Tage nach dem Vorfall alle 36 Profi-Vereine angeschrieben und an den Fair-Play-Gedanken appelliert: „Können wir es uns bei dem guten Ruf in der Welt leisten, den Bundesliga-Fußball zu einer Treter-Liga werden zu lassen?“
Es ändert sich wenig bis nichts – und vor dem Rückspiel befürchten die Verantwortlichen das Schlimmste.
Am 23. Januar 1982 zündelt Arminen-Trainer Horst Franz: „Wenn Arminia absteigt, ist Werder Bremen schuld.“ Auf der Arminia-Geschäftsstelle erscheint ein Mann, schlägt mit der Faust auf den Tisch und brüllt: „So wahr ich lebe: Wenn ich den Siegmann im Stadion erwische, schlage ich ihn tot.“
Rehhagel lässt Siegmann kluger Weise zu Hause. Er selbst verrichtet tapfer seinen Bankdienst, mit kugelsicherer Weste und unter Bewachung von fünf Bodyguards vom SEK, zwei sitzen neben ihm. Rehhagel: „Ein furchtbares Gefühl.“
Der Werder-Bus erhält bei An- und Abfahrt eine Polizeieskorte. Rehhagel schärft seinen Spieler ein: „Entschuldigt euch bei euren Gegenspielern, selbst wenn ihr denen mal unabsichtlich auf die Füße tretet.“ Sie gewinnen trotz dieser Hemmnisse mit 2:0.
Die groteske Schlusspointe bekommt fast keiner mit. Ein Witzbold auf der Post fängt den Spielbericht des Schiedsrichters an den DFB ab, öffnet den Brief und setzt die Bemerkung hinzu: „Trainer Rehhagel hat dem Spieler Lienen auf dem Weg zur Kabine eine Tätlichkeit angedroht.“ Das war frei erfunden.
Wahr ist, dass sich Lienen mit Rehhagel noch im selben Jahr aussöhnte und die Familien zu Freunden wurden.
Siegmann, der zum Buddhismus konvertierte und zeitweise in Indien lebte, quälte sich über 30 Jahre mit der Schuldfrage: „Bin ich vielleicht doch zu aggressiv rein gegangen?“ Als die Bundesliga 50 wurde, führte der Kicker ihn mit Lienen zusammen, und es kam zur Aussöhnung.
- Fun Fact 1: Siegmann erhielt nach jener Szene den Beinamen „Schlitzer“, hat in 209 Bundesligaspielen aber nie Rot gesehen.
- Fun Fact 2: Der Werder-Anwalt wohnte in der Bremer Knochenhauerstraße.